Neuenfelde. . Jahrzehnte alte Planungen einer „Flut-Flucht-Trasse“ werden wieder aus der Schublade geholt. Zum Schrecken der Anwohner Neuenfeldes.
Blickt man zwischen den Bauernhäusern am Marschkamper Deich hindurch, sieht man schwer behangene Apfelbäume, so weit das Auge reicht. Ginge es nach dem Willen einiger Interessenträger und nach einem Bebauungsplan aus der Zeit nach der Sturmflut, hätte man diesem Blick bald nicht mehr: Zwischen 200 und 50 Metern westlich des Marschkamper Deichs würde dann die „Flut-Flucht-Straße“ schnurgerade durch die Obstplantagen schneiden.
Gerade hat der Harburger Abgeordnete im niedersächsischen Landtag, Heiner Schönecke, wieder den Bau der Straße gefordert. Mit ihr könne man lange Staus im Alten Land vermeiden, meint Schönecke. Die Bürgervertretung Neuenfelde/Cranz schüttelt darüber den Kopf. Sie hält die Fluchtstraße in der heutigen Verkehrssituation für kontraproduktiv.
„Ohne eine Ortsumgehung in Rübke würde sich der Stau nur verlagern“, sagt Manfred Hofmann, Sprecher der Bürgervertretung, „und meines Wissens will Niedersachsen die Umgehung nicht bauen und Schönecke hat sich in letzter Zeit auch nicht besonders dafür eingesetzt. Bevor er die Fluchtstraße fordert, soll er erst mal seine Hausaufgaben machen.“
Was die Diskussion nicht einfacher macht: Wenn Schönecke die Fluchtstraße fordert, verlangt er als niedersächsischer Abgeordneter etwas vom Hamburger Senat. Wenn die Neuenfelder die Rübker Umgehung vorschlagen, reden sie als Hamburger von niedersächsischer Raumordnungspolitik – die Rübker Umgehung wiederum würde ein niedersächsisches Dorf entlasten, müsste aber über Hamburger Gebiet geführt werden.
Auf der „diplomatischen“ Ebene zwischen zwei Bundesländern reden keine einzelnen Abgeordneten und erst recht kein Bürgergremium mit, obwohl sie die Lokalkompetenz besitzen.
Der Bebauungsplan Neuenfelde 9, dessen einziger Inhalt die Fluchtstraße ist, wurde 1968 begonnen und 1970 fertig geplant. Er entstand unter dem Eindruck der Februarsturmflut von 1962 die in Hamburg zahlreiche Todesopfer forderte, unter anderem durch Deichbrüche an der Süderelbe in Neuenfelde.
Die Fluchtstraße sollte auf einem erhöhten Straßendamm schnurgerade vom Neuenfelder Hauptdeich bis zur zweiten Deichlinie im Hinterland führen, um im Falle einer erneuten Flutkatastrophe die schnelle Evakuierung Neuenfeldes zu ermöglichen. Längst gibt es andere Evakuierungsrouten, aber die Fluchtstraße geistert immer noch als Option durch das Planrecht, allerdings aus anderen Gründen: Statt der Wassermassen soll sie die Verkehrsfluten aus den Dörfern heraus halten.
Seit die Finkenwerder Umgehung fertig ist, wird diese nämlich als kurzer Weg aus dem Landkreis Stade zum Hamburger Hafen und zum Elbtunnel genutzt. Die Autofahrer, die diese Option wählen, müssen dazu allerdings erst einmal von der B73 zum Elbdeich kommen, entweder durch die Samtgemeinde Lühe, durch Jork oder eben durch Rübke und Neuenfelde. An allen drei Querstrecken klagen die Anwohner bereits über die gestiegene Belastung.
Ist erst einmal die A26 fertig gestellt, wird in Neuenfelde noch mehr Verkehr befürchtet. Erfahrungen aus Lühe und Jork, wo es bereits Autobahnanschlüsse gibt, scheinen das zu bestätigen. Auf den ersten Blick erscheint die Fluchtstraße also als eine Rettung aus einer drohenden Misere.
Auf den zweiten Blick, so die Bürgervertretung, schafft die Fluchtstraße allerdings mehr Probleme, als sie löst: Zum einen ist da das Thema Ortsumgehung Rübke. „Zum anderen hat sich in den letzten Jahrzehnten rund um die Nincoper Kreuzung ein neues Ortszentrum Neuenfeldes entwickelt“, sagt Manfred Hofmann. „In dessen direkter Nähe würde dann eine Quasi-Schnellstraße verlaufen.“
Torsten Harms, ebenfalls Mitglied der Bürgervertretung, fügt hinzu: „Außerdem würde die Straße Obstbaugebiet zerschneiden und es müssten an der Nincoper Straße historische Bauernhäuser abgerissen werden.“
Etwa sechs Hektar Obstbaufläche würden nach Schätzungen der Bürgervertretung verloren gehen. Die betroffenen Flurstücke sind alle im privaten Besitz und derzeit sind Obstbauern eher bemüht, mehr Fläche zu bekommen, als bereit, welche abzugeben. „Die Straße müsste aus Lärmschutzgründen heute wohl auch viel breiter werden, als damals geplant, da geht noch einmal Obstland verloren“, sagt Hofmann.
Als besonders problematisch sehen Hofmann und Harms den Verlauf der Straße entlang des Nincoper Deichs an, bevor sie an der so genannten „Todeskurve“ an diesen anschließt. Hier verläuft die geplante Strecke nur knapp hinter den Häusern auf der Westseite der alten Straße. „Östlich des Nincoper Deichs ist ein kleines Neubaugebiet geplant“, sagt Harms. „Da würde doch niemand mehr hinziehen wollen.“
Bei aller Ablehnung der Fluchtstraße sehen Harms und Hofmann ebenfalls die Probleme, die der Verkehr jetzt schon macht und befürchten auch, dass diese sich verstärken werden, wenn nicht gegengesteuert wird, „Vor allem die Anwohner des Marschkamper Deichs müssen geschützt werden“, sagt Hofmann. Unser Vorschlag wäre, dem Schwerlastverkehr die Durchfahrt durch Neuenfelde zu verbieten. Damit wäre schon viel erreicht“. Hauptsächlich sind es nämlich LKW, die die Neuenfelder nerven. „Nur der Obstbau müsste natürlich von dem Verbot ausgenommen sein“, sagt Hofmann.
Natürlich. Denn blickt man zwischen den Bauernhäusern am Marschkamper Deich hindurch, sieht man schwer behangene Apfelbäume, so weit das Auge reicht.