Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor der Hamburger St.-Michaelis-Kirche. Alle zwei Wochen schreibt wer seine Gedanken für das Abendblatt auf.
Harburg. Die St.-Gertrud-Kirche in Altenwerder ist eine „So-da-Kirche“. Das Dorf ist weg. Sie steht so da. Der Containerhafen und die Industriebauten dominieren die Umgebung. Die Kirche mit dem alten Friedhof ist geblieben. Sie lebt.
Als Gemeinde mit Gottesdiensten und Konzerten. Sichtbar wird mir das, wenn man auf die Wiese vor der Kirche schaut. Ein Schild weist darauf hin, dass hier Brautpaare anlässlich ihrer Trauung Apfelbäume gepflanzt haben. Jeder Baum, diese Apfelbäume hier und alle Bäume in der Welt sind ein Symbol für das Leben.
Für die Hoffnung. Das Martin Luther zugeschriebene Wort macht das deutlich: „Und wenn morgen die Welt unterginge, so würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Immer, wenn ich eines unserer Enkelkinder im Michel getauft habe, haben wir mit der ganzen Familie in dem kleinen Garten einen „Taufbaum“ gepflanzt. Der Baum ist Leben, Sinnbild für unser Leben, Wachsen und Reifen.
Alexander Demandt hat eine Kulturgeschichte des Baumes geschrieben. Titel: „Der Baum“. Ich habe mich darin festgelesen. Ein wunderbares Thema. Ihm geht es nicht um den Rohstoff Holz aus Bäumen. Für Möbel, Dachbalken, Flottenbau bis zu Spanplatten.
Faszinierend seine Verwendungsfülle. Trotz Kunststoff. Demandt bezeichnet den Baum als Symbol für das Leben schlechthin. Und das in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Mir wurde das deutlich, als ich in Jerusalem im Garten Gethsemane die wohl eintausend Jahre alten Ölbäume betrachtete.
Sie haben der Hitze und Dürre getrotzt. Was haben sie nicht alles erlebt! Kriege, Hungersnöte, das Absägen von Ästen in winterharter Kälte zum Feuermachen.
Der Baum kommt in alten Mythen, in heiligen Schriften und Märchen vor. In der Musik wie in der bildenden Kunst. Alle alten Religionen haben es mit Bäumen zu tun: mit Götterbäumen, Seelenbäumen, Schicksals- und Lebensbäumen. Die Römer glaubten, dass in jedem Baum eine Nymphe wohne.
In dem Mythos vom Paradies im Alten Testament ist von zwei Bäumen die Rede, vom Baum des Lebens und vom Baum der Erkenntnis. Vom Lebensbaum haben Adam und Eva nicht gegessen. Sie wären unsterblich geworden. Den Früchten vom Baum der Erkenntnis des Bösen und des Guten, schön und verlockend anzusehen, konnten sie nicht widerstehen.
Sie wollten sein wie Gott. Die Folge davon, dass sie das göttliche Gebot, nur von diesem Baum nicht zu essen, nicht befolgten, war ihre Ausweisung aus dem Garten Eden. Im Buch des Propheten Jeremia wird die besondere Beziehung zwischen Bäumen und Menschen beschrieben. Wer sich ganz auf Gott verlässt, „ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt…
Wenn auch die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht. Er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.“ Der Baum – ein Gleichnis für menschliche Sorglosigkeit, Gelassenheit und Standfestigkeit.
Der Verfasser des Buches „Der Baum“ wagt den Satz, dass wir für unser Leben kaum einen zuverlässigeren Begleiter finden können als den Baum. Er kann die Seele trösten. Er kann zum Erinnerungsort werden. Die zunehmende Zahl von Bestattungen in Wäldern oder auf baumbestandenen Wiesen großer Friedhöfe dient dem Gedenken der Toten.
Der Mensch vergeht – der Baum bleibt. Bäume werden zu Meditationsobjekten. Wenn man älter wird und einen alten Baum betrachtet mit einem knorrigen Stamm und schon abgestorbenen Ästen, kann man entdecken, dass er noch grüne Blätter hat – Lebenskraft trotz aller Vergänglichkeit.
Man wird gewahr, wie eng Vergehen und Wiederkehr im eigenen Leben zusammengehören. Demandt meint, dass es außer dem Baum kein zweites Geschöpf gibt, mit dem die Geschichte und das Geschick der Menschheit so eng verbunden ist.
Wie kein Mensch dem anderen gleicht, wie jeder einmalig und ein Original ist, so ist jeder Baum ein Individuum. Wie es Asiaten, Afrikaner und Europäer gibt, so die vielen verschiedenen Baumarten, Eichen, Eschen, Zypressen, Magnolien, Bonsai, Ginkgo…
Bemerkenswert ist, dass das Fällen oder Absterben eines Baumes bestürzend ist. Demandt bezeichnet das Fällen eines Baumes als „Exekution“. Gottlob empfinden das heute viele so, nicht nur die Natur- und Baumschützer. Ich habe das erlebt. In unserem Garten am Michel standen drei große Kastanien. Sie wurden immer unförmiger.
Wir bestellten einen Gärtner, der die auf die Straße überhängenden Äste eines der drei Bäume schneiden und der Krone eine ansprechende Form geben sollte. Sofort kamen Nachbarn und fragten empört: „Sie wollen doch nicht diese Kastanie fällen, die uns seit 30 Jahren begleitet?“ Wir konnten sie schnell beruhigen.
Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, das nächste Mal in den Harburger Bergen oder in den vielen Wäldern unserer Region spazieren gehen, bleiben Sie mal unter einem Baum stehen. Und sinnen Sie über ihn und sich selbst nach.
Sie könnten entdecken: Der Baum „macht“ nichts. Er lebt einfach. Er wächst und behauptet sich. Er hat tiefe Wurzeln. Er „will“ auch nichts. Er gehorcht dem Gesetz, das in ihm ist. Leben ist wie ein Baum! Sie könnten dann bereichert weitergehen.