Ein Kauz war er nicht. Ein Original schon. Kein Querkopf, wohl aber ein Querdenker
Ein Kauz war er nicht. Ein Original schon. Kein Querkopf, wohl aber ein Querdenker. Die Rede ist von Matthias Claudius, dem Wandsbeker Boten. In diesem Jahr wird sowohl seines Todes vor 200 Jahren gedacht als auch seines Geburtstages vor 275 Jahren. Zu Recht. Und mit Gewinn. Ich habe das erfahren. Ein Verlag bat mich, ein Buch über sein Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ zu schreiben. Das kannte ich natürlich wie die meisten Deutschen. Steht es doch an Nummer 1 auf der Liste deutscher Gedichte.
Es schlägt sogar Goethes „Erlkönig“. Bei jedem Erntedankgottesdienst habe ich das andere Lied von ihm gesungen: „Wir pflügen und wir streuen…“. Viel mehr kannte ich nicht. Inzwischen faszinieren mich dieser Mann, seine Gedanken und vielen Gedichte, seine Lebensart und Lebensklugheit wie sein tiefer Glaube.
Das Theologie- und Jurastudium brach er ab. War Gelegenheitsarbeiter. Für kurze Zeit war er als Erster Revisor bei der Schleswig-Holsteinischen Bank im dänischen Altona tätig. Für knappe zwei Jahre ging er als Oberlandkommissarius und Redakteur nach Darmstadt. Was ihm gar nicht gefiel. Ansonsten schriftstellerte er. Konnte neun Sprachen und war hochgebildet. Sein Beruf war Ehemann, Vater seiner 8 Kinder – 4 verstarben früh – und Schriftsteller. Alles in eins.
Zwischen Haus und Beruf wollte er nicht trennen. Er lebte von der Hand in den Mund. Von der Milch der Kuh, den Äpfeln hinter dem Haus und vom Garten. Fast ein Selbstversorger. Die vielen Freunde, u.a. Klopstock, Herder und der Philosoph Hamann waren häufig seine Gäste und brachten nahrhafte Gastgeschenke mit, Braten und andere Naturalien.
Die Einkünfte seiner Schriftstellerei waren spärlich. Vom dänischen Kronprinzen erbettelte er sich eine Jahresrente. Ein faszinierender Alternativer! Seine Sorglosigkeit und innere Zufriedenheit bringt er in seinem Gedicht mit dem ihm eigenen Humor so zum Ausdruck:
„Pasteten hin, Pasteten her,
was kümmern uns Pasteten?
Die Kumme hier ist auch nicht leer
und schmeckt so gut als bonne chere
Von Fröschen und von Kröten.
Und viel Pastet‘ und lecker Brot
verdirbt nur Blut und Magen.
Die Köche kochen lauter Not,
sie kochen uns viel eher tot;
Ihr Herren, lasst Euch sagen!
Schön rötlich die Kartoffeln sind
und weiß wie Alabaster!
Sie däun sich lieblich und geschwind
und sind für Mann und Frau und Kind
ein rechtes Magenpflaster.“
Wie frei und sorglos er war, bemerkt sein früherer Vorgesetzter in Darmstadt mit Spott und Hohn: „…dass dieser nichts tun mochte als Vögel singen hören, Klavier spielen und spazieren gehen, und die hiesige Luft nicht vertragen konnte…“ Ein Schwärmer und Romantiker war er jedoch nicht. Viel mehr einer, der mit beiden Beinen fest im Leben stand. Und das Leben genoss. Er genoss die Liebe zu seiner Rebecca, schwärmte von ihr und sagte: „Mir glühen oft die Fußsohlen vor Liebe.“ (Welcher Mann sagt so etwas heute?!) Zur Silberhochzeit schreibt er ihr: „Ich danke dir, mein Wohl, mein Glück in diesem Leben. Ich war wohl klug, dass ich dich fand. Doch ich fand nicht. Gott hat dich mir gegeben. So segnet keine andere Hand.“ (Wie schön wäre es, wenn Männer zur Silberhochzeit so sprechen könnten!) Herzlich liebte er seine 8 Kinder. Er setzte sie aufs Töpfchen und windelte sie. Später gab er jedem ein Musikinstrument und unterrichtete sie selbst. Ein wahrer Hausmann und Vater!
Er genoss die Natur. Zweifellos hätte er außer dem Mond und der Nachtigall auch den Wachtelkönig besungen, wenn er ihn in Neugraben gefunden hätte! Seine Liebe zur Natur regte ihn zu tiefen Gedanken an: „Die Erde ist schön. Ist herrlich wie der Himmel oben; und lustig darauf zu gehen.“
Er wollte vom Sehen auf das Sichtbare zum Schauen auf das Unsichtbare gelangen, zu dem Schöpfer der Natur, zu ihm als der lebendigen Lebensquelle.
Die Bilder der Natur werden bei ihm durchscheinend für die Schönheit der wunderbaren Schöpfung Gottes. „Naturgenuss ist wie der Liebeskuss von einem frommen Mann“, bekennt er. „Offenbar muss man von Himmel und Erde und allem, was sichtbar ist, die Augen wegwenden, wenn man das Unsichtbare finden will. Nicht, dass Himmel und Erde nicht schön und des Ansehens wert sind… Sie sollen unsere Kräfte in Bewegung setzen, durch ihre Schöne an einen, der noch schöner ist, erinnern und das Herz nach ihm verwunden.“ Die Erde ist für Claudius ein Paradies. Und zugleich nur ein Durchgangslager auf dem Weg zu einer anderen Welt. Verständlich werden seine Ehrfurcht und Liebe zur Natur nur, wenn man seine Unterscheidung von Zeitlichem und Ewigem, vom vorläufigen und endgültigen Leben versteht.
Ohne Resignation und gar nicht depressiv benennt er den Grund für die Unterscheidung in dem Gedicht „Der Eine“ so:
„Der Mensch lebt und besteht
nur eine kleine Zeit.
Und alle Welt vergehet
mit ihrer Herrlichkeit.
Es ist nur Einer ewig
und an allen Enden
und wir in seinen Händen.“
Eine Frage zum Schluss: Hätte Claudius in seinem Gottvertrauen angesichts des Klimawandels und akuter Umweltgefährdung auch so gelassen und hoffnungsstark gesprochen? Ich vermute es. Er war ja ein Christ. Durch und durch.
Helge Adolphsen ist emiritierter Hauptpastor des Hamburger Michel. Er lebt in Hausbruch.