Hamburg. Dr. Matthias Riedl spricht von „Adipositaswelle“ . Bereits Jugendliche haben Altersleiden wie Diabetes, Bluthochdruck und Gicht.

Pummelchen gab es schon immer. Doch der verniedlichende Ausdruck verschleiert, dass das Problem dicker Kinder in unserer Gesellschaft immer drängender wird. „Es hat in den 1980er- und 1990er- Jahren richtig an Fahrt bekommen. In dieser Zeit hat sich der Anteil der übergewichtigen Kinder um 50 Prozent vermehrt und die Zahl der adipösen Kinder, also, derer, die so richtig sehr, sehr dick sind, sogar verdoppelt“, sagt der Ernährungsmediziner im Podcast „Dr. Matthias Riedl. So geht gesunde Ernährung“.

„Wir haben jetzt bummelig 16 Prozent übergewichtige Kinder und sechs Prozent richtig adipöse. Und wenn ich von adipös spreche, dann meine ich richtig zu dick.“

Ernährungs-Doc Matthias Riedl sieht Adipositaswelle bei Kindern

In seiner Jugend habe es in jeder Schulklasse ein etwas dickeres Schulkind gegeben, „aber wenn ich das mit den heutigen Verhältnissen vergleiche, dann ist es gar nicht dick gewesen. Was wir jetzt sehen, ist eine wahnsinnige Adipositaswelle bei Kindern.“

Was ihn dabei am meisten beunruhige sei, dass das Dicksein meist unumkehrbar sei, sagt der Ernährungsmediziner, Internist und Diabetologe: „Das ist gerade in einer Studie noch mal nachgeschaut worden. Nach sechs Jahren waren die, die vorher dick waren, immer noch dick, und es hat sogar die Zahl der kranken Kinder um 20 Prozent zugenommen – da rede ich über die Zeichen des metabolischen Syndroms. Das sind erhöhte Blutzuckerwerte, erhöhte Blutfettwerte, erhöhter Blutdruck und sogar erhöhte Harnsäurewerte. Also eine klassische Zivilisationskrankheit, die sich bei diesen Kindern schon abzeichnet. Und besonders Fahrt nimmt diese Gewichtszunahme bei den Kindern bis zur achten Klasse auf. In dieser Zeit verdoppelt sich nämlich die Zahl der Kinder, die adipös sind.“

Spitzenreiter sei in Deutschland übrigens Mecklenburg Vorpommern, dort sei die Zahl der adipösen Kinder ganz besonders hoch.

Viele Kinder haben schon Bluthochdruck und erhöhte Blutfettwerte

Eine ganz neue amerikanische Studie habe gezeigt, dass ein Drittel der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen Bluthochdruck hat, ein Viertel erhöhte Blutfettwerte, ein Fünftel Gicht und 30 Prozent hätten eine Glukose-Toleranz-Störung, Vorstufe von Diabetes. „Ein Prozent der übergewichtigen Kinder haben den früher sogenannten ,Altersdiabetes’“, sagt der aus aus dem Fernsehen bekannte Ernährungs-Doc. „Jetzt ist dieser ,Altersdiabetes’ im Kindesalter angekommen und das zeigt, welche gigantische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat.“

Das sei ein Alarmsignal, weil diese Kinder die Schädigungen durch solche Krankheiten nun schon Jahrzehnte früher bekämen. „Und das heißt nichts anderes, als dass sie eher krank werden, dass sie auch eher sterben werden und dass ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, der Erfolg im Sozialen, im Beruflichen, aber auch im Körperlichen, also bei körperlicher Arbeit, erheblich eingeschränkt ist.“

Hauptfehler: Zu viel Fleisch, zu viel Zucker, zu viele Fertiggerichte

Es gebe vielgestaltige Erklärungen, aber die allerwichtigste sei die falsche Ernährung. Ein zu hoher Wurst- und Fleischkonsum, vor allem bei Jungs, zu hoher Zuckerkonsum durch Limonaden und auch zu viele Fertiggerichte seien dabei zu nennen, sagt Riedl, Ärztlicher Direktor des Medicum Hamburg, des Facharztzentrums für Diabetologie, Ernährungsmedizin und angrenzende Fachgebiete. Er geißelt in diesem Zusammenhang die Fernsehwerbung, „bei denen wirklich schlimme Produkte als gesund dargestellt werden oder mit so einem gesunden Nimbus verkauft werden“.

Weil inzwischen sehr viele Kinder in Kitas und Schulen Mittag essen, sei diese Mahlzeit dort besonders wichtig geworden, sagt der Ernährungs-Doc. Viele Kantinen hielten die Kriterien der gesunden Kinderernährung aber nicht ein, kritisiert er, Einmal sei er in einer Kita gewesen, in der man sehr stolz darauf war, dass es täglich Gemüse gibt. „Ich habe mir dann den Tagesplan angeguckt. Zu Mittag gab es Kartoffeln mit Soße und Wurst, das ist schon mal gemüsefrei. Und am Nachmittag gab es Bananen, also zuckerreich, und Weintrauben, ebenfalls zuckerreich.“

Ernährungs-Doc Matthias Riedl warnt: „Kinder nicht mit Süßigkeiten trösten“

Fatal sei, dass viele Kinder sehr früh lernten, dass sie ihre Stimmung mit Essen beeinflussen können. „Also wenn Sie als Kind beispielsweise mit Süßem getröstet wurden, verbleibt das im Gehirn als Prägung.“

Kinder mit Essen vollzustopfen, sei ebenfalls falsch. „Kinder kommen mit einem super Sättigungsgefühl zur Welt. Wenn sie satt sind, sind sie satt. Dann muss man da nicht noch einen Keks hinterher schieben.“ Wenn ein Kind greine, sei es nicht unbedingt hungrig. „Vielleicht sich einfach drum kümmern, auf den Arm nehmen, mit ihm sprechen und nicht einen Keks in den Kinderwagen schieben.“

In vielen Familien werde viel zu wenig Gemüse gegessen. „Kinder lernen eben nicht nur Sprache und Sozialverhalten von den Eltern, sondern sie lernen auch das richtige Essen.“

Ernährungs-Doc Riedl sieht Frühstück als besonders wichtig an

Diese Prägung sei vielen Eltern aber nicht bewusst. „Die Kinder lernen dann von den Eltern, dass man Fertigprodukte essen darf, dass man Süßigkeiten konsumiert, dass man Limonade täglich trinkt.“ Er bekomme dann manchmal Mails wie „Hilfe, meine Tochter ist elf, die ist nur noch Pommes, Nudeln, Ketchup und Toastbrot. Was soll ich machen?“ Das sei ganz klar die Folge einer falschen Prägung, sagt Riedl.

Der Experte erklärt, wie gesunde Mahlzeiten für Kinder aussehen müssen. Ideal seien gemeinsame Tischzeiten mit der ganzen Familie. Wegen ihres hohen Energiebedarfs sei es schon mal wichtig, dass Kinder frühstücken. „Sonst sind sie vielleicht unkonzentriert, zappelig und sie neigen dann natürlich zum Snacken, wenn sie sehen, dass andere Kinder Süßigkeiten mit in die Schule bekommen.“

Das Frühstück solle kindgerecht und auch mit dem Kind abgesprochen sein. Von Cerealien aus dem Supermarkt rät er ab, die seien maßlos überzuckert. „Lieber selber machen! Das heißt Haferflocken kaufen, eventuell anrösten, zuckerarme Beeren dazu, Nüsse vielleicht, Milch, Joghurt oder Quark dazu – das muss man mit dem Kind besprechen. Vorschläge machen und sich auch nicht davon abbringen lassen.“ Denkbar sei auch eine frische Vollkornbrotscheibe mit Käse und einer Scheibe Gurke.

An einen neuen Geschmack muss man Kinder langsam gewöhnen

Als Zwischenmahlzeit für die Pause rät Riedl zu Apfel und Brot oder auch zu Nüssen. „Auf keinen Fall Süßigkeiten.“ Das Mittagessen müsse gemüsebasiert sein, die Hälfte des Tellers sollte mit Gemüse gefüllt sein. Um Kindern neue Gemüsesorten und andere gesunde Lebensmittel schmackhaft zu machen, helfe es, sie ihnen wieder vorzusetzen. „Ich muss es einfach wieder anbieten, das braucht 20 bis 30 mal. Wenn ich einmal im Quartal mit einer Linsensuppe komme, dann werde ich ewig Gemecker hören, wenn ich das aber alle ein bis zwei Wochen bringe, dann nimmt das Gemecker ab.“

Um ein neues Gemüse einzuführen, könne man beispielsweise in den Kartoffelstampf ein bisschen Rote Bete oder Sellerie mischen. „So lernt das Kind unterschwellig diesen neuen Geschmack und man kann die Konzentration erhöhen. Wichtig ist zu wissen, die Ablehnung des Kindes neuen Speisen gegenüber ist völlig normal. Ich muss nur wissen, wie ich damit umgehe, Wenn ich meinen kleinen Prinzen oder meine kleine Prinzessin zum Entscheidungsmaß aller Dinge mache, das wäre sozusagen elterliches Versagen.“

Schlechte Ernährung: Familien nutzen Fertigprodukte aus Bequemlichkeit

Riedl weiß, dass in vielen Familien aus Bequemlichkeit Fertigprodukte genutzt werden – mit viel Zucker, viel Salz und Geschmacksstoffen. Das gaukle eine Geschmackswelt vor, die mit der Realität überhaupt nichts zu tun habe und das beginne oft im frühen Kindesalter. „Wenn so ein Kind früh so einen Fertigindustriebrei bekommt, dann wird die Wahrscheinlichkeit größer, dass es später die anderen aromatisierten Fertiglebensmittel der Industrie ganz toll findet.“

Damit würde sich die Industrie schon Kinder als Dauerkonsumenten ihrer Fertigprodukte heranzuziehen. Der Mediziner spricht von einer „ernährungstechnisch verlorenen Generation.“ Sei ein Kind erst einmal übergewichtig, dann bleibe es das meist. „Wir wissen, dass nach der Pubertät eine Ernährungstherapie zu über 90 Prozent nicht mehr wirkt. Diese Kinder sind verurteilt, ihr Leben lang krank zu sein und auch früher zu sterben.“