Hamburg. Auf TikTok und Instagram häufen sich Posts zum Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. UKE-Ärztin Prof. Dr. Sarah Hohmann erklärt Hintergründe.
- ADHS-Selbstdiagnosen trenden auf TikTok und Instagram
- Bis zu sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden an Aufmerksamkeitsstörungen
- Präsenz von ADHS im Internet kann positive Effekte haben
Wenn die Welt immer ein bisschen zu laut und zu hell erscheint, Gefühle immer einen Tick zu intensiv, Energieschübe wie Wellen über den Kopf hinwegrollen und entspanntes Stillsitzen einer Kür gleichkommt – dann kann sich dahinter die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, besser bekannt als ADHS, verbergen. Kann. Muss aber nicht.
Wirft man derzeit allerdings einen Blick auf TikTok, Instagram und Co., wirkt es, als identifizierten sich viele User und Userinnen mit dem Krankheitsbild. „Ich habe Angst, das auch zu haben“, schreibt eine Nutzerin unter einem Post, in dem gereizte Stimmung, Überforderung in lauter Umgebung und Kritikunfähigkeit als mögliche ADHS-Symptomatik beschrieben werden. Noch mehr Hintergründe und Mythen über ADS und ADHS - und was wirklich dran ist - lesen Sie hier.
ADHS und Selbstdiagnosen auf TikTok – Hamburger Ärztin vom UKE klärt auf
Zurück zum Thema: „Erkenne mich bei den Symptomen selbst wieder, ich sollte mich testen lassen“, kommentiert eine andere junge Frau den Post. Ein weiterer Nutzer schreibt: „Gefühlt hat plötzlich jeder ADHS.“ Was also steckt dahinter? Sind Selbstdiagnosen dieser Art problematisch? Und verbreitet sich die Krankheit ADHS derzeit wirklich vermehrt?
Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Statistiken. Etwa zwei bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden an krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe – das sind die Schätzungen des Bundesministeriums für Gesundheit. Im Erwachsenalter fallen die Zahlen niedriger aus, sagt Prof. Dr. med. Sarah Hohmann, Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des UKE.
ADHS: Knapp ein Drittel der Betroffen im Erwachsenenalter beschwerdefrei
„Hier kann man mit zwei bis drei Prozent der Menschen rechnen“, sagt Hohmann und erklärt auch, wie dieser Unterschied zustande kommt: „Knapp ein Drittel der Betroffen hat im Erwachsenenalter keine Beschwerden mehr, weil sie gewisse Bewältigungsstrategien für die Ausprägung der Störung gelernt haben und nun anwenden.“
Ein weiteres Drittel habe zwar noch Symptome, erfülle das „Vollbild der Diagnose“ aber nicht mehr, so Hohmann. Und lediglich ein Drittel der erwachsenen Betroffenen weise auch im späteren Alter noch alle Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung auf. Und genau diese können vielfältig sein: „Kernsymptomatik bei Kindern und Jugendlichen ist die Unaufmerksamkeit, Impulsivität und motorische Unruhe, nicht alle Symptome müssen aber gleich stark vorhanden sein“, erklärt die 45-Jährige.
Erwachsene mit ADHS verspüren häufig eine innere Unruhe
Im Erwachsenalter sehe die Sache allerdings etwas anders aus. „Die motorische Unruhe geht im Entwicklungsverlauf oft deutlich zurück, Betroffene beschreiben dann eher eine innere Unruhe. Man wird zum Beispiel eher selten Erwachsene sehen, die sich, sobald sie auf einem Drehstuhl sitzen, anfangen, im Kreis zu drehen“, so die Expertin. Neben der vorhandenen Kernsymptomatik – und genau hier setzen viele Posts in den sozialen Medien an – gibt es meistens aber noch mehr Probleme, die Betroffene aufgrund der Störung bewältigen müssen.
Das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte ADHS-Infoportal nennt als typische Begleiterscheinungen Desorganisation (fehlendes Zeitgefühl, Verspätungen, Alltagsvergesslichkeit), emotionale Labilität (Stimmungsschwankungen, sprunghaftes Entscheiden) und Stressintoleranz (andauerndes Grübeln, Einschlafstörungen, Probleme, sich auf neue Situationen einzustellen).
Hamburger Expertin: „Diagnoseraten bei ADHS gehen etwas hoch“
Auch Probleme mit dem eigenen Selbstwert (Selbstzweifel, vermindertes Selbstvertrauen) und gestörtes Sozialverhalten (Regelmissachtungen – zum Beispiel im Straßenverkehr, Nichtanerkennen gesellschaftlicher Normen etc.) sind häufig auftretende Probleme von Betroffenen.
Doch was ist an dem Vorurteil dran, ADHS sei eine Modekrankheit? „Die Forschung zeigt, dass die Prävalenzraten (Anm. d. Red.: Anteil Erkrankter an der betrachteten Bevölkerung) weltweit relativ stabil sind, allerdings gehen die Diagnoseraten in manchen Ländern oder Regionen in der Tat etwas hoch“, sagt Hohmann. „Ich erkläre mir das unter anderem damit, dass es inzwischen ein größeres Bewusstsein, weniger Stigmatisierung und mehr Diagnostik- und Beratungsangebote für diese Krankheit gibt.“
ADHS: Betroffene weisen ein höheres Risiko für Verkehrsunfälle auf
Außerdem werde (durch Einführung des neuen Diagnosesystems ICD 11) eine Diagnose mittlerweile nicht mehr nur dann gestellt, wenn ausnahmslos alle Kernsymptome vorhanden sind, sondern auch bei sogenannten „Subtypen“, erklärt die Ärztin. Sie befürwortet die Ausweitung des Diagnosebereichs. Denn: Unbehandeltes ADHS kann gefährlich, belastend und im schlimmsten Fall tödlich sein. „Studien zeigen, dass Betroffene ein höheres Risiko für Verkehrsunfälle aufweisen und auch deutlich häufiger an suizidalen Gedanken leiden.“
Die Störung führe unbehandelt außerdem häufig zu schwierigen Familienverhältnissen, niedrigeren Bildungsabschlüssen und sei generell ein Risikofaktor für eine gute Entwicklung und Lebensqualität. Und genau das ist auch der Grund, weshalb die Expertin in den Posts auf TikTok, Instagram und Co. eine große Chance sieht.
ADHS auf TikTok, Instagram und Co. – UKE-Ärztin sieht positive Effekte
„Menschen, die mit der Idee, ADHS zu haben, zu uns kommen, gab es schon immer“, so die Professorin. Lediglich das Informationsverhalten habe sich geändert: Während früher noch medizinische Bücher gewälzt werden mussten, um etwas über die Krankheit zu erfahren, reiche nun ein Blick in die sozialen Medien. „Wenn diese Videos und Postings einen jungen Menschen dann dazu bringen, ein mögliches ADHS abklären zu lassen, ist das erst mal überhaupt nichts Schlechtes“, so Hohmann.
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Ein weiterer positiver Nebeneffekt sei auch, dass ADHS durch die Präsenz auf Social Media immer weiter normalisiert werde. „Das ist auch etwas, was sich in der Medizin gerade ändert: ADHS im Sinne des Neurodiversität-Konzepts weniger als eine Erkrankung zu interpretieren, sondern eher als eine besondere Art und Weise, wie sich das Gehirn entwickelt hat und damit zu einer besonderen Art des Denkens beiträgt“, erklärt die Ärztin. Sie betont, dass es auch viele positive Seiten der Krankheit gebe – zum Beispiel ausgeprägte Kreativität, Begeisterungsfähigkeit und Empathie.
Hamburger UKE-Ärztin erklärt, wann ADHS-Selbstdiagnosen gefährlich werden können
Gefährlich wird es aber, wenn User und Userinnen die Inhalte auf Instagram und TikTok „nicht als Anregung, sondern als Diagnose betrachten und dann anfangen, sich selbst zu therapieren – beispielsweise mit Ritalin“, warnt Hohmann.
Ihr Rat an Eltern, die bei ihrem Kind ADHS vermuten, und an alle, die sich mit den entsprechenden Beiträgen in den sozialen Medien identifizieren: „Erst mal an den Kinder- oder Hausarzt wenden. Das ist die niedrigschwelligste Möglichkeit. Und nötig ist eine weiterführende Diagnostik auch natürlich nur, wenn ich selbst oder bei meinem Kind eine Beeinträchtigung im Alltag bemerke. Denn zu einem gewissen Maß finden sich Unaufmerksamkeit, Impulsivität und motorische Lebhaftigkeit bei den meisten Menschen und sind für sich genommen im unterstützenden Kontext nicht zwingend krankheitswertig oder behandlungsbedürftig.“