Hamburg. Hamburger Sondereinheit war vor Ort und sah unfassbares. Ihr Chef sagt ein Jahr nach der Tat: „Die Erinnerung ist wie ein Rucksack.“
- Amoklauf vor einem Jahr: Hamburger Polizisten sahen unfassbare Bilder
- „Sie mussten Tote hochheben, um an die Verletzten zu kommen“
- Spezialeinheit war schon nach Minuten vor Ort
Alsterdorf, vor einem Jahr. In Hamburg ereignet sich ein Verbrechen, wie es die Hansestadt in der Nachkriegsgeschichte noch nicht erlebt hatte. Am 9. März tötete Amokläufer Philipp F. im Königreichssaal der Zeugen Jehovas an der Deelböge in Alsterdorf sieben Menschen, darunter zwei Frauen und ein Kind im Mutterleib. Neun weitere Menschen verletzte er schwer. Als Polizisten bereits nach wenigen Minuten eintrafen und vorrückten, um den Amokläufer Philipp F. auszuschalten, flüchtete der in das erste Obergeschoss und erschoss sich. Die Männer, die als Erste ins Gebäude stürmten, waren Angehörige der USE, der Unterstützungseinheit, die bei genau solchen Lagen eingreifen soll.
Im Abendblatt schildert Lars Eggers, Chef der 5. Hundertschaft, zu der die USE gehört, im Rückblick, wie er den Einsatz erlebte. „Die Jungs“, so nennt Eggers die zehnköpfige Truppe – ein Zugführer, sein Stellvertreter und zwei Gruppen zu je vier Mann – die Mitglieder der USE. An diesem Abend waren sie elf. „Wir hatten noch einen bayerischen Polizisten, der dort bei einer vergleichbaren Einheit ist, als Hospitanten dabei“, sagt Eggert.
Amoklauf bei Zeugen Jehovas in Hamburg: Polizisten zeugen besonderen Mut
Es war gegen 21 Uhr, als die elf Polizisten vor der Unterkunft auf dem Gelände der Bereitschaftspolizei gerade Feierabend machen wollten. „Abrüsten“ heißt es, wenn Waffen und Gerät aus den Fahrzeugen genommen werden. „Dabei lief noch der Funk“, sagt Eggers. Plötzlich wurde es hektisch. Dann war klar: Es wurde geschossen. Der Einsatzort lag „um die Ecke“. In zwei Minuten war die USE vor Ort.
„Die schwere Schutzausrüstung haben sie gar nicht angelegt. Das war in der Situation nicht mehr möglich“, so Eggers. Mit ihren Waffen stürmten die USE-Männer zum Gebetsraum, in dem sie durch die gläserne Tür den Amokläufer sehen konnten. „Einer der Kollegen hat dann sofort mit der Maschinenpistole ein Loch ins Glas geschossen, damit man hineingreifen und die Tür öffnen konnte“, sagt Eggers. „Das hätte nicht jeder Polizist so gemacht.“
Was den Leiter der Einheit, Lars Eggers, besonders bewegte: „Auffällig auch hier wie schon während des gesamten Einsatzes in dem Gebäude, dass es sehr ruhig, fast still war, keine Hilferufe, kein Wimmern, keine Schreie.“
Die Beamten können sehen, dass hinter der Glastür mehrere Menschen auf dem Boden liegen. Sie betreten den Raum, leuchten ihn mit dem Licht ihrer Waffen aus und überprüfen die Menschen. „Dabei mussten sie feststellen, dass Personen zum Teil mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen aufwiesen, tot waren oder schwer verletzt waren oder einfach nur geschockt und apathisch. Zum Teil lagen noch lebende Personen unter Verstorbenen.“
Hamburger Polizist über Amoklauf: „Das macht was mit einem“
Was sich im Erdgeschoss abspielte, ist für viele Menschen nicht zu fassen. „Die haben Sachen gesehen, die man nicht sehen muss“, sagt Eggers über seine Kollegen. „Sie mussten Tote hochheben, um an die Verletzten zu kommen. Sie haben schlimmste Verletzungen gesehen. Das macht schon was mit einem. Das bekommt man nicht so einfach wieder aus dem Kopf.“
Dabei waren es nicht nur die Beamten der USE, „junge und alte Hasen“, wie Eggers sagt, sondern auch andere Polizisten, die mit dem Grauen hautnah konfrontiert wurden. So wie die Männer und Frauen der Bereitschaftspolizei, denen von der USE die Schwerverletzten übergeben wurden, um sie zum Rettungswagen zu bringen, und die später für die Kripo den Tatort mit den dort liegenden Toten filmen mussten. „Da waren ja im Gegensatz zu uns auch völlige Berufsanfänger dabei“, so Eggers.
Schwer war es auch für die Beamten der Funkeinsatzzentrale, die während des Amoklaufs angerufen wurden und mit anhören mussten, wie der Anrufer oder die Anruferin getötet wurde. Der 1. Hauptkommissar erwähnt auch die Beamten vom Polizeirevier Hoheluft-West. Dort hatte man eine Sammelstelle für Überlebende und Angehörige eingerichtet. „Die Kollegen und Kolleginnen haben die ganze Nacht über mit den Betroffenen gesprochen und das richtig gut hinbekommen. Die haben wirklich einen tollen Job gemacht.“
Zunächst war unklar, ob Amoklauf oder Terroranschlag
Eggers selbst war etwa 40 Minuten nach dem Amoklauf vor Ort. „Ich bin in Itzehoe angerufen worden und dann hin.“ Mit dem Tod des Amokläufers war die heiße Phase des Einsatzes nicht vorbei. „Wir wussten zu dem Zeitpunkt ja nicht, welchen Hintergrund und welches Ausmaß die Tat hat, ob es ein Amoklauf oder ein Terroranschlag war“, sagt Eggers, der in der Nacht Leiter des Abschnitts „Eingreifkräfte“ war, die für mögliche weitere Tatorte und Schutzmaßnahmen bereitstanden. So wurden alle Liegenschaften der Zeugen Jehovas in Hamburg überprüft.
Für die USE war mit dem Tod des Amokläufers der Einsatz nicht beendet. Die Beamten haben noch zusammen mit dem SEK eine an den Tatort angrenzende Baustelle überprüft. „Ich wollte sie da raushaben, aber es war niemand da, der sie hätte ablösen können“, sagt Eggers.
Nach Amokeinsatz: Seelsorger sprachen mit den Polizisten
So ging es erst später zurück in die Unterkunft. Dort wurden sie von zwei Seelsorgern betreut. „Die Seelsorger sind direkt zu uns gekommen und haben mit den Jungs gesprochen“, erzählt Eggers. Er selbst hat sich den Ablauf schildern lassen, um einen Bericht zu schreiben.
In den Tagen danach hat man sich mehr „professionell“ mit dem Einsatz beschäftigt. „Die Jungs, das haben sie relativ schnell für sich gesagt, wollten keine Helden sein. Die haben den Ablauf analysiert und geschaut, was gut, was nicht so gut gelaufen ist und was man daraus lernen kann. Innerhalb von zwei Tagen haben sie das aufgeschrieben“, so Eggers. Mittlerweile gibt man seine Erfahrungen und sein Wissen an vergleichbare Einheiten in ganz Deutschland weiter.
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Lars Eggers hat ebenfalls sein Fazit gezogen. „Glück spielt natürlich auch eine Rolle. Wir waren nur zwei Minuten vom Tatort entfernt. Wäre der Einsatz in Bergedorf gewesen, wären wir nicht die Ersten vor Ort gewesen, und es wäre möglicherweise anders gelaufen.“
Polizei: „Die Erinnerung ist wie ein Rucksack, den wir tragen“
Der Einsatz habe die Konzepte bestätigt. „Die Tat hat gezeigt, dass wir zwar nicht alles verhindern, es aber im Ernstfall schnell beenden können, dass alle Beteiligten, nicht nur die Polizei, sondern auch Feuerwehr oder Notärzte, gut funktioniert haben“, sagt Eggers. „Wir wissen schon, was wir tun.“ „Wir haben regelmäßig über den Einsatz gesprochen“, sagt Eggers über die Tage und Wochen danach. „Die Jungs haben gesagt, alles isei gut. Aber es kann ja immer noch passieren, dass da was hochkommt. Es ist wie ein Rucksack, den wir alle, die daran beteiligt waren, mit uns tragen.“
Ein Jahr nach dem Amoklauf bei den Zeugen Jehovas kämpft auch die Gemeinde noch immer mit den Folgen der Tat. „Jetzt, wo der Jahrestag näher rückt, ist das für alle zunächst auch ein bedrückendes Ereignis“, sagt der Sprecher der Zeugen Jehovas in Norddeutschland, Michael Tsifidaris. Auch die Traumata kehrten zurück. Die allermeisten der Überlebenden seien noch in therapeutischer Behandlung. Er sagt zugleich: „Wir sind froh, dass die Verletzten ungefähr sechs Wochen nach dem Tatgeschehen die Krankenhäuser verlassen konnten.“ Aber es werde auch physische Langzeitfolgen geben.