Hamburg. Schon jetzige Wetterlage im Norden sei riskant, so der Experte. Warum die Folgen dramatischer sein könnten als im Winter 1978/79.

Frank Roselieb ist Krisenmanager und Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung, das seit 2015 auch an der Papenreye in Hamburg ein Büro hat. Die Zahl der Akten, die hier über sieben Jahrzehnte zu sämtlichen Katastrophen gesammelt wurden, liegt im fünfstelligen Bereich. Neben Terroranschlägen, Lebensmittelskandalen und der Corona-Pandemie beschäftigt sich der Wirtschaftswissenschaftler auch mit Naturkatastrophen.

Nach den ersten teils heftigen Schneefällen und Rekord-Minusgraden im Norden und dem Schneechaos in Bayern möchten wir von ihm wissen, ob sich angesichts der zunehmenden Extremregenfälle bei uns im Norden eine Schneekatastrophe wie die von 1978/79 wiederholen kann. „Das ist leider nicht ausgeschlossen“, sagt Roselieb, der auch Mitglied in zahlreichen Krisen- und Katastrophenstäben ist.

Wetter Hamburg: Krisenforscher schließt Schneekatastrophe nicht aus

Aus der Krisenforschung wisse man, dass den Schneemassen im Winter 1978/79 ein extrem verregneter Sommer vorausgegangen war. Im Jahr 2023 sei der Sommer in Norddeutschland wieder nasser als üblich gewesen, es habe also eine vergleichbare Wetterlage geherrscht.

Frank Roselieb ist Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung, das auch in Hamburg ein Büro betreibt.
Frank Roselieb ist Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung, das auch in Hamburg ein Büro betreibt. © Institut für Krisenforschung | Institut für Krisenforschung

So wie auch 2005 im Münsterland. Dort hatte es dann im Winter eine Schneekatastrophe gegeben. Damals waren innerhalb von zwölf Stunden rund 30 Zentimeter schwerer, nasser Schnee gefallen. Nachdem zunächst der Verkehr zusammengebrochen war, knickten 82 Strommasten ein, als starker Wind die von einem mehrere Tonnen schweren Eismantel umhüllten Kabel zum Schwingen brachte.

Schleswig-Holstein: Freiliegende Leitungen bieten Natur viel Angriffsfläche

„Damals fiel für rund eine Viertelmillion Menschen der Strom aus, teilweise bis zu einer Woche“, erinnert sich Roselieb. „Bis heute war das der größte längere Blackout in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Ein solches Ereignis könne sich jederzeit wiederholen, denn im Rahmen der Energiewende würde die bislang dezentrale Versorgung durch Kernkraft-, Kohle- und Gaskraftwerke vor Ort vermehrt durch zentrale Hauptleitungen für den Windstrom aus dem Norden in den Süden ersetzt.

Diese Leitungen verlaufen zwar ab Brunsbüttel beziehungsweise Wilster im Wesentlichen unterirdisch. „Dennoch“, gibt Roselieb zu bedenken, „werden die zuführenden Freileitungen in Schleswig-Holstein nicht verschwinden, sondern bieten weiter viel Angriffsfläche für die Natur.“

Stromausfall hätte größere Auswirkungen als bei Schneekatastrophe 1978/79

Käme es zu Beschädigungen der Stromleitungen durch Schnee, Eis und Wind und dadurch zu einem Stromausfall, hätte dieser für die Menschen in Hamburg und Schleswig-Holstein deutlich größere Auswirkungen als 1978/79. Damals konnten sich die Menschen noch per UKW-Batterieradio informieren, und auch das analoge Festnetztelefon funktionierte ohne 220-Volt-Steckdose. „Heute fallen beim Blackout das Digitalradio und die Voice-Over-IP-Telefonie per Internetrouter gleichzeitig aus.“

Im Krisenarchiv am Kieler Institutssitz lagern Tausende Aufzeichnungen zu den Krisen- und Katastrophenfällen aus sieben Jahrzehnten – auch zur Schneekatastrophe 1978/79.
Im Krisenarchiv am Kieler Institutssitz lagern Tausende Aufzeichnungen zu den Krisen- und Katastrophenfällen aus sieben Jahrzehnten – auch zur Schneekatastrophe 1978/79. © Institut für Krisenforschung, Kiel | Institut für Krisenforschung, Kiel

Auch das Gesundheitswesen wäre massiv betroffen. „Damals wurden deutlich mehr chronisch kranke Menschen zentral in Krankenhäusern versorgt, heute setzt man auf Heim-Beatmung und Heim-Dialyse mit Hausnotruf per Knopfdruck – also dezentrale Lösungen.“ Ohne Strom versagten aber die Akkus der Geräte bald ihren Dienst – und das Notstromaggregat im Krankenhaus sei weit entfernt.

Innenstadt Hamburg hat einen Vorteil, weil es hier nie richtig kalt wird

Letztlich wäre auch die Lebensmittelversorgung gefährdet, da man die Vorratshaltung von damals nicht mehr kenne. Bei einem flächendeckenden Blackout könnte der Supermarkt um die Ecke die Versorgung nicht mehr leisten. Auch Lieferketten würden unterbrochen, sagt der Krisenforscher.

Zumindest die Innenstadt von Hamburg habe den Vorteil, dass es hier nie richtig kalt werde, da Gebäude, Autos und Menschen Wärme abstrahlten. In den Randgebieten oder auf dem Land könnte die Lage deutlich dramatischer werden – mit Auswirkungen auch auf die Stadt. In Norderstedt etwa laufen viele Stromleitungen zusammen, so Roselieb. „Dort befindet sich auch eines von drei Hauptumspannwerken für die Hansestadt. Wenn es dort zu einer Havarie kommt, könnte es im Extremfall auch in Teilen von Hamburg dunkel werden.“

Aktuelle Wetterlage beeinträchtigt Erzeugung von Wind- und Sonnenenergie

Doch nicht nur kaputte Stromleitungen gefährden die Energieversorgung. Schon die jetzige Wetterlage sei riskant. „Es ist fast windstill, sodass kaum Windenergie produziert wird, und die Photovoltaik-Felder entlang der Autobahnen sind größtenteils zugeschneit. Gleichzeitig ist es recht kalt, es wird also viel geheizt, und die Gasspeicher leeren sich.“ Eine ähnliche Lage habe es zum Jahreswechsel 2010/11 gegeben. Damals habe sich das Wetter im letzten Moment geändert, und auch die Gasvorräte konnten aufgefüllt werden.

Mitte Februar 1979 legten starke Schneefälle den Verkehr in Hamburg lahm.
Mitte Februar 1979 legten starke Schneefälle den Verkehr in Hamburg lahm. © picture alliance / Georg Spring | Georg Spring

Generell seien Schleswig-Holstein und Hamburg aber gut vorbereitet. In Schleswig-Holstein habe man nach den erschreckenden Erfahrungen bei der Hilfe für die Opfer der Ahrtal-Flut (als veraltete Lastwagen auf dem Weg dorthin kaputtgingen) einen zweistelligen Millionenbetrag in neue Fahrzeuge und mehr Mitarbeiter investiert.

Krisenforscher Frank Roselieb: Hamburg ist gut auf Extremfälle vorbereitet

Und auch Hamburg sei auf Extremfälle vorbereitet, da die Innenbehörde den Katastrophenschutz nach etlichen Extremereignissen in den vergangenen Jahrzehnten – darunter die Flut 1962, die technischen Herausforderungen durch das Jahr-2000-Problem zu Beginn des neuen Jahrhunderts, G20, die Flüchtlingskrise und Corona – ständig verbessert habe.

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Zwar wurden die sogenannten Kat-Leuchttürme als Anlaufstellen bei Katastrophen noch nicht eingerichtet (der Senat hatte 2019 bekannt gegeben, die Umsetzung prüfen zu wollen). Doch auf der Website der Innenbehörde finden Bürgerinnen und Bürger alle wichtigen Informationen darüber, wie sie im Ernstfall gewarnt werden. Zudem informiert die Bundesrepublik darüber, wie ein Lebensmittelvorrat angelegt und gepflegt werden sollte.

Nach Katastrophen rücken Menschen enger zusammen – wie bei der Ostsee-Sturmflut

Wie 1978/79 werde es auch jetzt bei einer neuerlichen Schneekatastrophe den positiven Begleiteffekt geben, dass Menschen sich gegenseitig unterstützen und zusammenrücken. Davon ist Roselieb überzeugt. „Dieses Phänomen haben wir in der Krisenforschung immer wieder beobachtet – sei es bei der Flut im Ahrtal 2021 oder jüngst bei der Ostsee-Sturmflut 2023.“

Selbst in Großstädten habe es bei längeren Blackouts (wie etwa im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick im Februar 2019) keine Plünderungen gegeben.