Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten. Heute: der tragische Jahrhundertwinter 1978/79.
Zu mild für die Jahreszeit, etwas Regen – eigentlich herrscht am 28. Dezember 1978 im ganzen Norden typisches Hamburger Schmuddelwetter. Doch es braut sich etwas zusammen, das als Schneekatastrophe oder Jahrhundertwinter in die Geschichte eingehen wird.
In der darauffolgenden Nacht trifft ein stabiles Hochdruckgebiet über Skandinavien auf ein südliches Tiefdruckgebiet, das die arktische Luft geradezu aufsaugt. Innerhalb weniger Stunden fallen die Temperaturen auf bis zu 27 Grad minus. Orkanböen fegen über Norddeutschland hinweg. Schiffe frieren im Wasser fest. Es fängt an zu schneien – und wird für 86 Stunden nicht mehr aufhören.
Winter 1978/79: Als Hamburg und der Norden wochenlang im Schnee versanken
Der Wintereinbruch, über den sich anfangs noch viele freuen, wird schnell zur Tragödie. Der Norden versinkt im Schnee. Verwehungen türmen ihn teils bis zu sieben Meter hoch auf. Straßen sind nicht mehr passierbar, Strommasten brechen unter seinem Gewicht zusammen.
Am 29. Dezember rufen mehrere Landkreise in Schleswig-Holstein Katastrophenalarm aus. Grund ist zunächst noch nicht das Winterwetter, sondern die Ostsee. Denn zum Schnee- und Eissturm kommt ein schweres Hochwasser, das ganze Stadtviertel in Flensburg, Schleswig und Lübeck überschwemmt.
Jahrhundertwinter: 80 Dörfer sind von der Außenwelt abgeschnitten
80 Dörfer im nördlichsten Bundesland sind von der Außenwelt abgeschnitten. Räumpanzer und Hubschrauber der Bundeswehr werden eingesetzt, um die Schneemassen in Schach zu halten und die Eingeschlossenen aus der Luft zu versorgen. 30.000 Helfer von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, DRK und weiteren Organisationen sind im Einsatz.
Soldaten fliegen Schwangere und Kranke aus ihren zugeschneiten Häusern in die Kliniken. Eine Herausforderung für die Piloten, denn den ganzen Tag über herrschen Böen der Stärke 8 bis 9, in Küstennähe gibt es orkanartige Böen der Stärke 11. „Ab zehn Metern konnte man nichts mehr sehen, weil der Schnee so stark aufwirbelte“, erinnert sich Pilot und Zeitzeuge Lutz Weibezahl in einem der zahlreichen Rückblicke, die es über die Katastrophe vor fast 45 Jahren mittlerweile gibt.
Landwirte weinen, weil sie ihre Kühe in den Ställen nicht melken können
Er selber bringt eine Hochschwangere, deren Fruchtblase drei Tage zuvor geplatzt war, von Rügen ins Krankenhaus nach Stralsund. Auf der Insel konnten ihr weder die Hebamme noch der Arzt, der auf Skiern anrückte, helfen. Das kleine Mädchen, das dann in Stralsund per Kaiserschnitt zur Welt kommt, hat noch viele Jahre Kontakt zu Weibezahls Hubschraubergeschwader, die es als Patenkind betrachtet.
Die Aufnahmen, die während der Katastrophe im Fernsehen ausgestrahlt werden, zeigen weinende Landwirte, deren brüllende Kühe wegen des Stromausfalls nicht gemolken werden können. Erschöpfte Hilfskräfte nach stundenlangem Schneeschippen. Menschen, die vom Schnee eingeschlossen sind und verzweifelt winkend die Luftretter auf sich aufmerksam machen.
Hamburg bringt gestrandete Bahn- und Autofahrer in Bunker unter
Auch von den Tausenden in Hamburg gestrandeten Bahn- und Autofahrern wird berichtet, denen das Bezirksamt Hamburg-Mitte eine provisorische Unterkunft in einem Tiefbunker gewährt. Dort gibt es für die Menschen, die zuvor teils stundenlang in eisigen Zügen und Autos festgesessen haben, Wolldecken und Erbsensuppe.
„Wir haben gestern 20 Stunden auf der Autobahn 7 gesessen“, berichtet ein Skandinavier, noch sichtlich mitgenommen. Er hatte Glück. Andere Autofahrer, die geborgen werden, müssen mit Unterkühlung ins Krankenhaus.
Dass Hamburg die Gestrandeten im Bunker unterbringt, wissen nicht alle zu schätzen. Eine Frau aus Rostock beschwert sich, „dass nicht so viel Geld für uns übrig ist, dass man in einem Hotel schlafen kann“. Wäre das in ihrer Heimat passiert, wären „Leute aus der BRD“ in einem Hotel untergebracht worden.
Hamburg kommt glimpflich davon – nur Flugverkehr bricht zusammen
Die Hamburger und Hamburgerinnen selbst kommen bei der Schneekatastrophe recht glimpflich davon. Zwar verschwindet auch die Millionenstadt unter einer Schneedecke und der Flugverkehr am Flughafen Fuhlsbüttel bricht vorübergehend zusammen.
Der öffentliche Nahverkehr im Innenstadtbereich kann dagegen aufrechterhalten werden. Auch die Stromversorgung läuft weiter, denn nach der Sturmflut von 1962 hatten die Hamburgischen Electricitäts-Werke fast alle Freileitungen durch Erdkabel ersetzt.
Ski-Olympiasieger bietet auf Moorweide Einführung in Langlauf an
Um die Straßen und Gehwege schnellstmöglich wieder frei zu bekommen, bittet der damalige Bürgermeister Hans-Ulrich Klose die Hamburger, sich am Schneeschippen zu beteiligen. Rathaus und Bezirksämter stellen Schippen, Besen und Schneeschieber bereit.
Zugleich bietet der heftige Wintereinbruch den Hamburgern die Gelegenheit für ein eher seltenes Vergnügen: Sie können in ihrer Stadt Ski fahren – ins Büro, zum Einkaufen oder einfach zur Entspannung durch die Parks. Auf der Moorweide bietet Georg Thoma, Olympiasieger in der Nordischen Kombination, sogar eine Einführung im Ski-Langlauf auf der „Dammtor-Loipe“ an.
Hamburger Bürgermeister appelliert an Zusammenhalt der Bürger
Mitte Februar 1979 fängt es erneut an, ohne Unterlass zu schneien. Am 18. Februar werden in Fuhlsbüttel mittags 67 Zentimeter Schnee gemessen. Bürgermeister Klose wiederholt seinen Appell, zusammenzustehen. „Bitte unterstützen Sie Ihre älteren Nachbarn beim Schneeräumen, nehmen Sie einer gehbehinderten Nachbarin Einkäufe ab.“ Diese Bitte richtete er auch ausdrücklich an Hamburgs Schüler und Schülerinnen. Die hatten schneefrei bekommen.
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Wieder kommt Hamburg recht gut davon – außerhalb ist es deutlich schlimmer. Besonders betroffen sind diesmal Teile von Niedersachsen, darunter Friesland, Oldenburg und Rotenburg/Wümme. Auch jetzt bringen die Schneemassen teilweise die Stromversorgung zum Erliegen, müssen die Bahnstrecken vom zugewehten Schnee freigeschaufelt werden.
Schleswig-Holstein: 40 Bahnreisende werden per Hubschrauber aus Zug gerettet
In Schleswig-Holstein werden zwischen Ascheberg und Preetz 40 Bahnreisende per Hubschrauber mithilfe einer Seilwinde aus einem festsitzenden Zug gerettet. Doch auch die Ostseeküste ist erneut betroffen. Vor Kiel und Flensburg türmt sich das Eis bis zu zwei Meter hoch, der Nord-Ostsee-Kanal kann nicht mehr befahren werden. Allein in der Kieler Förde liegen rund 80 Schiffe fest.
Noch wochenlang ist Norddeutschland von einer kompletten Schneedecke bedeckt. In Husum liegt noch bis zum 20. Mai 1979 Schnee. Der außergewöhnlich harte Winter kostet allein in der Bundesrepublik 17 Menschen das Leben, in der DDR sind es neueren Erkenntnissen zufolge sogar mehrere Hundert, die den Jahrhundertwinter nicht überleben.