Hamburg. Hamburger Lehrer tauschen die Schule und wechseln fünf Tage aufs Land. Was sie in Nordhorn Überraschendes erleben.
Ländliche Idylle statt Halligalli – Hamburgs umtriebiger Schulleiter von der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg in Hamburg-Dulsberg sorgt mal wieder für Furore. Björn Lengwenus hat einfach mal die Schule getauscht und unterrichtet mit sechs Kollegen in der niedersächsischen Provinz.
Niedersachsen trifft Hamburg, Flächenland trifft Stadtstaat, gemächliche Kreisstadt trifft Metropole: Größer könnten die Unterschiede wohl kaum sein. Hamburger Lehrer und Lehrerinnen, die in Dulsberg 1750 Schüler unterrichten, treffen in dieser Woche auf 752 Mädchen und Jungen aus Nordhorn.
Hamburger Schule nimmt an ungewöhnlichem Experiment teil
Fünf Tage lang gehen Schulleitung und Kollegen der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg und des Evangelischen Gymnasiums Nordhorn ein Experiment ein und tauschen jeweils ihre Arbeitsplätze.
Typisch Björn Lengwenus, der Schule gern anders denkt und mit extrem großer Leidenschaft dabei ist. In den vergangenen Jahren hat er beispielsweise das Schachspiel an die Schulen gebracht – und im Lockdown sendete er aus den Räumlichkeiten der Schule die „Dulsberg Late Night“, dafür gab es sogar den Grimme-Preis. Ein Idealist, der mehr gibt als 100 Prozent.
Nun hat er mit dem wohl ersten deutschen Schulteamtausch überhaupt wieder eine verrückte Idee: Mitarbeiter von zwei maximal unterschiedlichen Schulen tauschen für eine Woche ihren Arbeitsplatz, ihre Aufgaben und Unterrichtsverpflichtungen und dazu natürlich auch ihre Lebenswirklichkeit.
Hamburger Schulleiter überrascht von Eindrücken aus Nordhorn
Ein bisschen „geflasht“ wirkt Björn Lengwenus beim Telefongespräch, so stark sind die Eindrücke aus Nordhorn, der 55.000-Einwohner-Stadt an der niederländischen Grenze in der Grafschaft Bentheim.
Während an seiner Schule das Leben tobt, es laut ist, lebendig und ja zuweilen anstrengend, geht es an dem evangelischen Gymnasium ganz anders zu, viel gemächlicher.
Das Leben ist weniger bunt als in Hamburg-Dulsberg, wie das Beispiel Diversität zeigt: „Wir haben Schüler und Schülerinnen aus 80 Nationen, in Nordhorn gibt es fast nur blonde Kinder“, sagt Lengwenus.
Im niedersächsischen Nordhorn sind die Schüler leiser als in Dulsberg
Das bedeutet weniger Abwechslung, aber auch weniger Reibung. Der Unterricht verläuft gradliniger, störungsfreier als in Dulsberg. „Meine Kollegen berichten, dass sie sich manchmal fragen, ob noch alle Kinder in der Klasse sind, wenn sie an der Tafel mit dem Rücken zu den Schülern stehen, so leise ist es.“ In Dulsberg meist undenkbar.
Und bei einem Sitzkreis, für den an der Hamburger Stadtteilschule mindestens fünf Minuten angesetzt werden, ist dieser in Nordhorn bereits nach gefühlten 20 Sekunden wieder vorbei, einfach weil die Schüler aus Niedersachsen braver sind, ruhiger und disziplinierter. „Wir müssen uns als Lehrer ganz schön umstellen und den Unterricht anders angehen“, sagt Lengwenus.
Als er den Schülern den Film „100 Dulsberg“ zeigt, dem einzig von Lehrern besetzten Gangsterfilm, in dem er und Lehrerkollegen das harte Leben in der Großstadt völlig überzogen darstellen, sind die Mädchen und Jungen in der Klasse ebenfalls ganz ruhig. „Die waren sprachlos, das war wohl zu viel Rock ’n’ Roll“, sagt Lengwenus.
In Hamburg geht es bei Diskussionen „mehr ums Leben“
Während der Unterricht in Hamburg sehr individuell und differenziert gestaltet wird, weil die Schüler und Schülerinnen so unterschiedlich sind, ist das in Nordhorn gar nicht nötig – so ähnlich sind die Mädchen und Jungen, ihr Lernniveau und die Art zu lernen. Während an der Stadtteilschule Lehrerteams eingesetzt werden, steht in Nordhorn nur ein Pädagoge in der Klasse.
Lengwenus selbst unterrichtet in Nordhorn Religion als Leistungsfach in der 13. Stufe. Dabei bemerkt er einen weiteren Unterschied zu seinen Schülern in Hamburg: „Fachlich sind die Schüler in Nordhorn top, gehen sehr weit in die Tiefe, führen starke fachliche Diskussionen.“
In Dulsberg werde auch viel diskutiert, „aber oftmals geht es dabei mehr ums Leben“. Während in Nordhorn die meisten nach dem Abitur zum Studieren ins nicht weit entfernte Osnabrück wollen, ist der Weg, den die Dulsberger Schüler vor sich sehen, doch breiter gefächert. „Ich glaube, dass viele Arbeitgeber aber genau dieses Diverse eher suchen“, sagt Lengwenus.
„Die Schüler in Nordhorn sind sehr angepasst“
Klar, bei der PISA-Studie würden die Niedersachsen vermutlich vorn liegen, aber dafür zeigen die Hamburger mehr Reife und eine klare Haltung, stehen mehr im Leben und reflektieren viel. „Die Schüler und Schülerinnen in Nordhorn an dem Gymnasium überlegen immer dreimal, ehe sie etwas sagen. “
Das ist der gebürtige Barmbeker nicht gewohnt. „Es ist schon sehr großstädtisch, schnell seine Meinung laut zu äußern.“ Auch seien die Nordhorner weniger in den sozialen Medien unterwegs als die Hamburger. „Das ist schön, aber auch irritierend.“
An der Stadtteilschule in Dulsberg ist mehr Halligalli als am Evangelischen Gymnasium
Nicht nur die Schule ist so anders, sondern auch das ganze Drumherum. Als das Hamburger Lehrerteam einen Fahrradausflug macht und an einer Blumenwiese hält, sagt eine Kollegin. „Das ist so krass idyllisch, das bereitet mir fast Schmerzen.“
- Jedes dritte Schulkind spricht zu Hause kein Deutsch
- Lehrermangel immer größer – diese Schulen leiden besonders
- Das sind die beliebtesten Gymnasien und Stadtteilschulen
Und was berichtet die Nordhorner Schulleiterin aus Dulsberg? „Bei uns herrsche mehr Halligalli. Die niedersächsischen Kollegen haben es sich aber schlimmer vorgestellt“, sagt Björn Lengwenus und lacht.
Der 51-Jährige bringt auch neue Ideen aus Nordhorn mit: „Uns hat ein ehrenamtliches Projekt an der Schule sehr beeindruckt, alle machen dazu etwas parallel in der 11. Klasse. Das wollen wir nachmachen.“
Schule Hamburg: Ganze Klassen zum Austausch nach Nordhorn?
Auf die Idee zu diesem außergewöhnlichen Experiment kamen die Schulleiter, als sie sich beim Deutschen Schulpreis kennenlernten, den beide Schulen 2021 verliehen bekamen. Der Gedanke hinter dem Experiment: Neue Konzepte kennenlernen, um Schule noch besser zu machen.
Doch bei dem einmaligen Tausch soll es nicht bleiben. Lengwenus möchte im kommenden Jahr ganze Klassen tauschen – Schüleraustausch also nach Nordhorn statt nach Chicago. „Ich wünsche mir, dass Schulen in Deutschland noch viel enger zusammenarbeiten. Bei einem Schulaustausch kann man tief eintauchen.“ Unterricht fällt übrigens nicht aus, da ja die Lehrer beider Schule an der jeweils anderen arbeiten.