Familie des Mädchens fühlt sich unter Druck gesetzt. Schulleitung verlangt für die Neunjährige plötzlich eine Schulbegleitung.

  • Amelia (9) ist an Diabetes Typ 1 erkrankt
  • Großmutter kümmerte sich um Überwachung des Blutzuckers
  • Doch nun fordert die Schulleitung eine Begleitung im Unterricht

Hamburg. Die Diagnose kam im April 2022. Zu diesem Zeitpunkt wurde bei Amelia Diabetes Typ 1 festgestellt, eine Autoimmunerkrankung, die oft schon im Kindesalter auftritt. Allein in Deutschland leiden laut Statistik rund 32.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren daran. Für die Hamburger Grundschülerin, die im neuen Schuljahr in die vierte Klasse gekommen ist, bedeutet das, dass sie ihren Blutzuckerhaushalt immer genau im Blick behalten muss.

Weil Amelia die Gefahr nicht ausreichend gut einschätzen kann, übernehmen ihre Mutter und ihre Großmutter die Überwachung, damit Amelia ohne große Einschränkungen am Unterricht teilnehmen kann. „Amelia trägt einen Sensor, im Notfall schlägt mein Handy Alarm“, erklärt ihre Großmutter Angela Gabriel. Dann eilt diese die paar Minuten zur Grundschule Ballerstaedtweg in Ohlsdorf und gibt dem Mädchen bei Unterzuckerung Traubenzucker.

Grundschule Hamburg: Leitung setzt Mädchen mit Diabetes ein Ultimatum

Am Donnerstag hat der Unterricht in Hamburg nach den Sommerferien wieder begonnen. Doch im neuen Schuljahr wird die geübte Routine gestoppt – denn Amelias Grundschule, die sie seit der Einschulung besucht, fordert vehement eine Schulbegleitung für das neunjährige Mädchen.

Die Schulleiterin hat der Familie schriftlich ein Ultimatum gestellt: „Ich setze Ihnen mit Beginn des Unterrichts nach den Sommerferien eine vierwöchige Frist bis zum 22.09.2023, um eine solche Assistenz zu finden“, heißt es in einer Mail an die Familie. Amelias Mutter Stephanie Kock und ihre Großmutter sind nun in heilloser Aufregung. Denn was passiert, wenn sie so rasch keine Schulbegleitung finden? Sie fragen sich: Muss Amelia dann die Schule verlassen – und wo soll sie dann hin?

Schule Hamburg: Schon 2022 fand sich keine Schulbegleitung

Nach der Diagnose im Frühjahr 2022 hatte die Familie auf Anraten der Ärzte schon einmal eine Schulbegleitung beantragt. „Doch es hat sich niemand gefunden. Wir haben uns dann mit der Schule verständigt, dass ich die Betreuung übernehme“, sagt Angela Gabriel.

Nachdem sie zweimal vor verschlossenen Türen gestanden habe und ihre Enkelin nicht versorgen konnte, bekam sie am 31. Mai 2022 einen Schlüssel für den Eingang. „Alles lief gut“, sagt die 62-Jährige. Denn die ehemalige Floristin kennt sich aus mit Diabetes. Ihre Tochter Stephanie, Amelias Mutter (39), hat ebenfalls seit jungen Jahren Diabetes Typ 1.

Unterzuckert: Sensor schlägt Alarm bei Schulausflug

Mutter, Tochter und Enkelkinder – Amelia hat noch einen kleinen Bruder – wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft. Ihre Wohnungen in einer ruhigen Straße unweit des Ohlsdorfer Friedhofs liegen auf derselben Etage. „Ja, wir sind sehr eng“, bestätigen beide. Angela Gabriel hat auch eine notarielle Vollmacht für ihre alleinerziehende Tochter, sollte dieser etwas zustoßen. Sie kümmert sich viel um ihre Enkelkinder.

Die Unstimmigkeiten zwischen der Familie und der Schule begannen im Juni dieses Jahres kurz vor den Ferien zu eskalieren. Nach Aussagen der Familie hatte die Schulklasse einen unangemeldeten Ausflug unternommen. „Das war ein Gewaltmarsch“, so die Einschätzung von Angela Gabriel. Dabei sei Amelia unterzuckert, der Sensor gab Alarm. Sie aber hätten zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, wo sie Amelia finden können, denn in der Schule war sie ja nicht.

Familie empfindet die Reaktionen der Schule als Strafe

Im Nachgang hätten sie um ein Gespräch mit der Klassenlehrerin und der Schulleiterin gebeten, um diesen gefährlichen Vorfall zu thematisieren.

Die Schulleiterin erklärte in ihrer Antwort zwar ihre Bereitschaft zu einem Gespräch, wies aber in derselben Mail auf die vielen Fehltage von Amelia hin und schrieb, sie habe die zuständige Schularztstelle informiert und einen Termin veranlasst. Die Schülerin möge gemeinsam mit Mutter und Großmutter erscheinen. „Das kam uns vor wie eine Strafe“, sagt Stephanie Kock.

Schule Hamburg – Amelia hat viele Fehltage: „Nimmt jeden Infekt mit“

„Es stimmt, dass Amelia in den letzten Jahren sehr oft krank war. Sie nimmt einfach jeden Infekt mit“, sagt Angela Gabriel. All ihre Krankheiten hätten aber nichts mit der Diabeteserkrankung zu tun gehabt.

Die Schulleiterin forderte zusätzlich zu ihrem Ultimatum auch den Schlüssel für die Eingangstür zur Schule zurück. Es spreche einiges aus „pädagogischen Gründen gegen die Fortführung dieses Entgegenkommens vonseiten der Schule. Amelia ist in vielen Dingen sehr unselbstständig, und eine Aufgabe der Schule ist es, die Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen“, heißt es in der Mail an Mutter und Großmutter.

Die Großmutter musste den Schulschlüssel wieder abgeben

Angela Gabriel widerspricht: „Amelia ist ein selbstständiges Mädchen. Vielleicht kann man mir vorwerfen, dass sie nicht allein zur Schule geht. Tatsächlich begleite ich sie wie viele andere Eltern auch, weil der Schulweg vorbei an vielen Büschen führt und ich mir Sorgen mache.“

Nachdem Amelias Oma den Schulschlüssel nun wie verlangt am Donnerstag, dem ersten Schultag, zurückgeben hat, muss sie künftig wieder am Haupteingang klingeln, wird dann zur Klasse begleitet und „nach der medizinischen Versorgung wieder aus der Schule hinaus begleitet“, so das von der Schulleiterin festgelegte Prozedere bis zum 22. September.

Berechnen der richtigen Insulinmenge ist für Grundschülerin nicht einfach

Auch Amelia hat eine Diabetesschulung absolviert, doch für ein Kind im Grundschulalter sei der Umgang damit eben nicht so einfach, sagt ihre Großmutter. „Schwierig ist in Amelias Fall, dass ihre Bauchspeicheldrüse manchmal selbst Insulin produziert und manchmal nicht. Amelia kann sich das Insulin zwar selbst spritzen, aber noch nicht verlässlich ausrechnen, wie viel sie braucht. Das ist sehr kompliziert, weil es auch davon abhängt, wie viel sie sich bewegt.“

In der Schule sei bislang Unterzuckerung aufgetreten, da reiche dann Traubenzucker. Insulin muss sie bei Überzuckerung spritzen, das sei während des Unterrichts noch nie vorgekommen.

Familie würde die Betreuung gern weiter selbst leisten

Dass Amelia aber künftig eine Schulbegleitung haben muss, obwohl sie selbst ihre Betreuung leisten können, finden Stephanie Kock und Angela Gabriel überflüssig. „Die Krankenkasse hatte uns damals gesagt, wir könnten eine Schulbegleitung bekommen oder die Betreuung selbst übernehmen.“ Und letztlich hätten sie keine Wahl gehabt, denn ein halbes Jahr lang sei ihnen niemand vermittelt worden und so hätten sie die Schülerin eben immer weiterversorgt.

„Es ist überflüssig, dass dafür Geld ausgegeben werden soll. Was soll diese Person denn den ganzen Tag da sitzen – dafür, dass sie vielleicht ein- oder zweimal in der Woche eingreifen muss“, sagt Angela Gabriel. Aber natürlich blockierten sie die Schulbegleitung nicht, „wir wollen ja den Schulbesuch von Amelia nicht gefährden.“

Was passiert nach dem 22. September, wenn das Ultimatum abläuft?

Doch weil es schwierig sei, Schulbegleiter zu finden, seien sie in großer Sorge, weil das Ultimatum der Schule am 22. September endet. Den Vorwurf der Schulbehörde, sie hätten Personal für die Diabetesassistenz abgelehnt, weisen Mutter und Großmutter zurück.

In der Schule sei bislang niemand auf das Angebot des Wilhelmstifts eingegangen, eine Diabetesschulung zu machen. „Die Versorgung von Krankheiten liegt nicht in dem Aufgabengebiet von Lehrkräften“, sagt Peter Albrecht, Sprecher der Schulbehörde, die stellvertretend für die Schule Auskunft gibt. Zugleich verweist er auf eine Entscheidung des Sozialgerichts von 2019. „Die Verantwortung dafür, auch im Falle eventueller unsachgemäßer Anwendung, kann von Lehrkräften nicht übernommen werden.“

Großmutter und Mutter sorgen sich vor Unterzuckung der Diabeteskranken

Die Schulen erhalten laut Albrecht bei Bedarf allerdings Beratung durch verschiedene Stellen in der Schulbehörde für den Umgang mit Kindern mit chronischen Erkrankungen, ebenso durch die schulärztlichen Dienste der zuständigen Behörde.

Allerdings weist er darauf hin, „dass eine Schulung bzw. die Aufmerksamkeit des schulischen Personals keinesfalls die Sicherstellung einer medizinischen Behandlungssicherungspflege im Falle einer ärztlichen Verordnung ersetzt.“ Das würde allerdings ja die Familie weiter übernehmen wollen.

Schulbehörde Hamburg sagt: „Ein Schulwechsel ist nicht angezeigt“

Wie es mit Amelia nach dem 22. September weitergeht, ist bislang unklar. Peter Albrecht sagt zum Ultimatum, das die Schulleitung der Familie gestellt hat, allerdings: „Es herrscht Schulpflicht an Hamburger Schulen. Amelia wird selbstverständlich zur Erfüllung ihrer Schulpflicht weiterhin beschult werden.“ Ein Schulwechsel sei nicht angezeigt.

Die Familie hat derzeit noch eine weitere große Sorge: „Was, wenn Amelia unterzuckert und in der Schule niemand rechtzeitig die Tür aufmacht, wie es ja auch am Anfang passiert ist?“, sagt Angela Gabriel. „Das lässt uns keine Ruhe.“