Das jüngste Kind elf, das älteste 16 – in einer Klasse. Eine Herausforderung für die Lehrer. Sie sagen: „Wir haben die Welt in einem Raum“. Eine Reportage aus der Stadtteilschule Langenhorn.
Hamburg. Eigentlich hat Svetlana Baglyk einen frustrierenden Job, denn die Lehrerin sagt: „Wenn sie was können, müssen sie gehen.“ Trotzdem ist die 36-Jährige froh, wenn wieder einer ihrer Schüler nach spätestens einem Jahr so gut lesen und schreiben gelernt hat, dass er ihre Klasse verlässt und die nächste Stufe erklimmt – von der Basisklasse in die Internationale Vorbereitungsklasse (IVK).
Baglyks Schüler sind Kinder von Flüchtlingen und Zuwanderern. Wenn Flüchtlinge in die Stadt kommen, dann bringen diese häufig ihre Kinder mit und die sind schulpflichtig. Viele haben in ihren Heimatländern jedoch nie eine Schule besucht und auch in ihrer Muttersprache nicht lesen und schreiben gelernt, andere können beispielsweise Arabisch, aber nicht die lateinische Schrift. Die Zahl der Zuwandererkinder wächst. Waren es im Februar 2013 noch 733 Schüler, so lag ihre Zahl nach Angaben der Schulbehörde zu Beginn des aktuellen Schuljahrs schon bei 1588.
„Ein bisschen spät fangen sie an mit Lesen und Schreiben“, sagt Svetlana Baglyk, eine gebürtige Russin aus Omsk, die Lehramt für Grund- und Hauptschule und Interkulturelle Pädagogik studiert und zudem eine Zusatzqualifikation für Deutsch als Zweitsprache hat. In Frau Baglyks Klasse sind Geschwister aus Rumänien, die aber nur Türkisch sprechen, zwei Schwestern und zwei Brüder aus Syrien, ein Mädchen aus Afghanistan, ein Mädchen aus Serbien, ein Junge aus dem Iran und zwei Kinder aus Ägypten. Das jüngste Kind ist elf, das älteste 16 Jahre alt.
Aber wie unterrichtet man Kinder, die so unterschiedlich alt sind, die so viele Muttersprachen und so viele unterschiedliche Geschichten mitbringen? Und die so unterschiedlich lange brauchen, um Fortschritte machen?
Svetlana Baglyk fragt jeden Morgen erst einmal in die Klasse: Welcher Tag ist heute, welches Datum, wie ist das Wetter, wie spät ist es gerade? Sieben Kinder sitzen zu Beginn da, die anderen trudeln noch später ein. Wer zu spät war, musste sich bei Anke Timm vom Beratungsdienst der Schule melden. „Ich arbeite verlustig gegangenen Schülern hinterher“, beschreibt sie ihre Tätigkeit. Das heißt, sie ruft bei den Betreuern in den Wohngruppen an, wenn Flüchtlingskinder nicht zur Schule kommen oder in den Unterkünften der Familien. „Wir haben auch einige Kinder, die manchmal für ihre Eltern bei Terminen übersetzen müssen und deshalb nicht kommen.“ Und manche kämen einfach deshalb häufiger zu spät, weil sie jeden Morgen aus Harburg oder Billstedt kommen. Denn die Kinder sollen zwar möglichst in der Nähe ihrer Unterkunft zur Schule gehen, doch letztlich entscheiden die verfügbaren freien Plätze über die Schulwahl.
Am Vortag hat Baglyk den Schülern Wörter mit Z beigebracht: Zange, Zahn, Zelt, Zitrone, Zwiebel, Zaun, Zebra. Der Unterschied zu Worten mit S ist ein gewaltiger und für Schüler, die noch kaum Deutsch sprechen, ist die Aussprache eine Herausforderung. Am Fenster des Klassenzimmers kleben DIN-A4-Zettel mit den Zahlen von 1 bis 10 – Hände mit ausgestreckten Fingern verdeutlichen die Bedeutung der Ziffern. Es gibt auch ein Schaubild mit wichtigen Lebensmitteln wie Brot, Käse, Wurst und Obst.
„Die größte Herausforderung ist, dass sie ja unterschiedlich lang hier sind“, sagt die Lehrerin. Sie müsse die Aufgaben sehr individuell auf jeden Einzelnen zuschneiden. Während ein Schüler noch das Z übt, schreiben die anderen schon ganze Wörter. Aber kleine Aufsätze oder Diktate, daran sei nicht zu denken. „Sie schreiben dann fast nur Konsonanten“, sagt Baglyk. Aber ihre Erfahrung ist auch: „Die Kleinen saugen alles auf wie ein Schwamm.“ Sie seien in einem fremden Land, müssten sich eingewöhnen und den ganzen Wortschatz lernen und vermissten häufig Familie und Freunde.
Und manchmal müssen sie überhaupt erst lernen, sich an Regeln zu halten. „Es kommt vor, dass arabische Kinder auf der Straße aufgewachsen sind, hierher kamen und sich überhaupt nicht an Regeln hielten“, sagt Schulleiter Ronald Bleckwedel. Er holte sich Rat von Schulbehörde, Polizei und Verfassungsschutz. So kam der Kontakt zur Al-Nour-Moschee zustande. Elsayed Kamal ist zweiter Imam in der Moschee und unterrichtet seit etwa einem Jahr stundenweise an der Stadtteilschule. „Viele haben anfangs keinen Respekt vor Lehrern und kein Verständnis dafür, welche Rolle die Schule hat“, sagt Kamal. „Die hatten das Bild, dass hier das Geld auf der Straße liegt und dann merken sie, dass es ganz anders ist.“
23 Lehrer unterrichten insgesamt an der Schule, inklusive Honorarkräften sind es 33 Personen. 60 Kinder besuchen die 10. Klasse der Stadtteilschule, den letzten regulären Jahrgang. Etwa 20 Schüler sind in den beiden Basisklassen, 100 Kinder sind in IVK-Klassen. Die Idee, dass die Schüler integriert werden und nach und nach in die Regelklassen übergehen, ist an diesem Standort hinfällig. Denn was im nächsten Schuljahr aus dem Standort wird, ist unklar. „Die Schulbehörde hat beschlossen, die Schule zu schließen“, sagt Schulleiter Bleckwedel.
Gertrude Timmermann hat 16Schüler aus zehn Nationen in ihrer Klasse. „Wir müssen alle willkommen heißen – trotz des Trubels und der Routine“, beschreibt sie die tägliche Herausforderung. Teilweise seien die Jugendlichen zwei, drei Jahre auf der Flucht gewesen. Sie müssten daher wissen, die Schule sei ein Ort, an dem sie willkommen seien, „die anderen Dinge finden sich“. Ihre Kollegin Birgit Schütz sagt: „Obwohl immer mehr kommen, ist es erstaunlich, wie friedlich die einander helfen und miteinander umgehen.“ In ihrer Klasse sind nur sieben von 17 Schülern mit ihren Familien nach Hamburg geflüchtet, die anderen kamen unbegleitet. Ihre Muttersprachen sind beispielsweise Urdu, Fula, Tirgrina, Twi, Edo.
Schütz, die seit drei Jahren an der Schule unterrichtet, beschreibt den Unterschied zu einer Regelklasse folgendermaßen: „Man hat dort nach einem halben Jahr eine Gruppe. Hier hat man ständig Kennenlernen und Abschied, man hat nie eine homogene Gruppe.“ Jerom, 16, aus Eritrea ist seit drei Wochen in der Klasse und blickt noch ziemlich verständnislos in die Gegend. Mahsa, 16, aus dem Iran ist schon seit 14 Monaten im Land und kam mit Mutter und Bruder nach Hamburg, während Jerom allein hier ist. Der Jüngste in der Klasse ist Adrijan. Der 13-jährige Italiener aus Verona ist in Hamburg, weil sein Vater seit Kurzem hier arbeitet. Seit November 2013 lernt er in der Klasse von Birgit Schütz. Auch Kinder wie Adrijan müssen die deutsche Sprache erst lernen, ehe sie in eine reguläre Klasse wechseln können.
Dass hier vieles anders ist als in ihrer jeweiligen Heimat, die oft zu den Krisenherden der Welt gehört (wie Somalia, Tschetschenien, Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Eritrea), haben sie alle schon feststellen müssen: Warum wohnen so viele Deutsche allein, warum haben so viele keinen Kontakt zu ihren Nachbarn, warum essen die Deutschen so viele Kartoffeln, warum muss man hier so oft zum Zahnarzt, warum sprechen viele Deutsche kein Englisch, warum sprechen sie überhaupt so wenig miteinander?
Bei manchen Fragen muss Birgit Schütz passen. Die jungen Zuwanderer halten der Gesellschaft hierzulande mit ihren Fragen den Spiegel vor. „Ich liebe es, wenn ich die Welt im Klassenraum habe“, sagt die 59-jährige Lehrerin.
An diesem Vormittag steht das Fach Gesellschaft auf dem Stundenplan. In der vergangenen Stunde hat die Klasse die Kontinente gelernt. Jetzt wird das Gelernte wiederholt. „Was fällt Euch zu Europa ein?“, fragt Birgit Schütz ihre Schüler. Adam, 15, aus Tschetschenien bringt es auf den Punkt: „Die haben Glück gehabt.“