Der Migrantenanteil an der Grundschule Billbrookdeich liegt bei 100 Prozent. Etwa 75 Prozent sind Roma, die aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien kommen. CDU fürchtet: „Billbrook wird zum Getto“.

Hamburg. Es gab Ratten, Kakerlaken, überall lag Müll. Es brannten offene Feuer, Tiere wurden geschächtet. Gewalt war an der Tagesordnung, die Polizei im Dauereinsatz: In den 1990er-Jahren herrschten in der Unterkunft Berzeliusstraße, so sagten Bewohner und Beobachter, fast schon Zustände wie in einem Slum.

Ein Bewohner verhungerte 1999, obwohl er unter Betreuung stand. Nachdem der Druck auf die Stadt aufgrund der menschenunwürdigen Zustände immer größer wurde, wurde die Einrichtung im Industriegebiet von Billbrook 2002 geschlossen. Die Gebäude wurden abgerissen. Heute liegt die Fläche brach. Doch jetzt ist um dieses Grundstück eine hitzige Diskussion entbrannt, die immer schärfer geführt wird. Grund: Die Stadt will an der Berzeliusstraße erneut Flüchtlinge unterbringen. 600 sollen es werden, die ersten 120 Bewohner sollen Ende dieses Jahres in sogenannte Modulhäuser einziehen, die noch errichtet werden.

„Der Plan macht mich fassungslos“, sagt der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete David Erkalp. „Wieso lernt die Stadt nicht aus den Fehlern, die sie in der Vergangenheit gemacht hat?“ Es gebe in Sichtweite zwei weitere Flüchtlingsunterkünfte. „Die Stadt schafft hier ein Getto – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste, das ist unglaublich“, sagt Politiker Erkalp. Tatsächlich liegen die beiden Unterkünfte Billstieg und Billbrookdeich in der Nachbarschaft. Dort sind bereits 774 Flüchtlinge untergebracht.

Die Stadt hatte in der vergangenen Woche mitgeteilt, dass in den kommenden Monaten zwei Dutzend weitere Flüchtlingsunterkünfte mit mindestens 5000 Plätzen geschaffen werden sollen. Das ist angesichts des unverminderten Andrangs von Not leidenden Menschen, die in Hamburg Zuflucht suchen, auch dringend notwendig. Die Berzeliusstraße soll dabei einer der 26neuen Standorte sein.

In der Nachbarschaft liegen die Unterkünfte Billstieg und Billbrookdeich. Die Menschen leben dort auf engem Raum in mehrstöckigen roten Klinkerhäusern. Auf dem Gelände sammelt sich Sperrmüll. Die Mülltonnen sind angekokelt. Die Stadt spricht immer von zwei getrennten Unterkünften. Dabei gehen die Einrichtungen ineinander über. Die Bushaltestelle am Billbrookdeich ist nur noch ein Stahlgerüst. Ohne Bänke oder Fahrplan. Geschäfte gibt es hier schon lange nicht mehr. Zum Einkaufen fahren die Bewohner ins benachbarte Billstedt.

Mit Augenmerk verteilen

900 Ausländer leben in Billbrook. Das sind 64,3 Prozent der gesamten Bevölkerung. Wenn die 600 neuen Bewohner an der Berzeliusstraße eingezogen sind, wird der Ausländeranteil auf 75 Prozent ansteigen. Diese Zahlen gehen aus der Antwort des Senats auf eine schriftliche Anfrage des CDU-Politikers Erkalp hervor: „Dieser hohe Ausländeranteil ist den Bürgern in Billbrook nur noch schwer zu vermitteln.“ Der Billstedter fordert: „Die Stadt muss die Flüchtlinge mit Augenmerk verteilen.“

Auch nach dem Anteil ausländischer Schüler in der Grundschule Billbrookdeich – einem Standort der Schule am Schleemer Park – hatte CDU-Mann Erkalp den Senat gefragt. Die Antwort: 97,2 Prozent. Aber diese Antwort scheint nicht zu stimmen. Es seien in Wahrheit wohl 100 Prozent, sagt Erkalp. Alle 110 Schüler haben einen Migrationshintergrund, wie auch Schulleiterin Ute Heger gegenüber dem Abendblatt bestätigt. Das sei wohl einmalig in Deutschland.

Etwa 75 Prozent sind Roma, die aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien kommen. Auch Schüler aus Afghanistan machen eine größere Gruppe aus. „Das ist eine Herausforderung. Wir machen hier einen individuellen Unterricht, der sich auf die speziellen Bedürfnisse der Schüler einrichtet“, sagt Heger. Die meisten Kinder leben in unmittelbarer Nähe in den Flüchtlingsunterkünften.

Sie gehen in die 1. bis 4. Klasse der Grundschule. Außerdem gibt es zwei sogenannte Alpha-Klassen mit jeweils zehn Schülern zwischen neun und 16 Jahren: „Hier unterrichten wir Schüler, die vorher noch keine Schule besucht haben und meist auch kein Deutsch sprechen“, sagt Ute Heger. Es werde dort vor allem mit Bildmaterial gearbeitet, um den Schülern die deutsche Sprache überhaupt erst einmal beizubringen.

Offen und herzlich

Der Zusammenhalt unter den Kindern sei besonders groß. Sie fühlten sich wie eine große Familie, berichtet Schulleiterin Heger. Im Schuljahr 2005/2006 lag der Anteil der deutschen Schüler noch bei 13,7 Prozent: „Wir bekommen aber jetzt keine Neuanmeldungen mehr von deutschen Kindern“, sagt Heger. Seit 14 Jahren unterrichtet sie bereits an dieser Schule – und der Pädagogin macht ihre Aufgabe noch immer viel Freude: „Die Kinder sind hier sehr offen und herzlich. Natürlich manchmal auch lebhafter und aufbrausender als andere in ihrem Alter.“ Wer hier arbeite, der sei alles auf einmal für die Kinder, so Heger: Lehrer, Mama, Papa und Sozialpädagoge. Wichtig ist Heger eines: „Wir haben nicht mehr oder weniger Gewaltprobleme als andere Grundschulen.“

Dennoch: Die weitere Ansiedlung von 600 Flüchtlingen in Billbrook stößt nicht nur bei der CDU auf Kritik, sondern auch bei SPD und Grünen. „Wir halten den Standort Berzeliusstraße für nicht geeignet“, sagt Grünen-Fraktionschef in der Bezirksversammlung Mitte, Michael Osterburg. „Denn hier leben in unmittelbarer Nähe bereits 774 Flüchtlinge.“ Wenn weitere 600 Flüchtlinge an der Berzeliusstraße untergebracht würden, seien Konflikte programmiert.

Aber: „Wir können es jetzt nicht mehr verhindern, und nun muss Fördern + Wohnen ein professionelles Betreuungsangebot für die neuen Bewohner anbieten, für das es vor allem hoch qualifizierte und ausreichend Mitarbeiter geben muss.“ Osterburg: „Nachdem klar war, dass der Senat an diesem Standort festhält, haben wir maximal 300 Plätzen zugestimmt. Auch darüber hat sich die Sozialbehörde hinweggesetzt, und das ist sehr unglücklich.“

Auch die SPD-Fraktion in Mitte hatte sich für maximal 300 Plätze ausgesprochen: „Wir halten 600 Plätze an einem Standort, an dem es in der Nähe zwei weitere Unterkünfte gibt, für zu viel. Dies kann nur eine zeitlich begrenzte Notlösung sein“, so SPD-Fraktionschef Falko Droßmann.