Hamburg. Bürgermeister lobt Einsatz, doch es gab Pannen. Behörde bestätigt Abendblatt-Recherchen und gibt zu: Kontaktdaten wurden nie erhoben.

Am Morgen nach dem Verdacht, ein mit dem ICE von Frankfurt nach Hamburg gereistes Pärchen könnte das Marburg-Virus von Ruanda nach Deutschland eingeschleppt haben, hatte die Sozialbehörde Entwarnung gegeben. Der reisende Medizinstudent, der am vergangenen Mittwoch (2. Oktober) am Hauptbahnhof einen Großalarm ausgelöst hatte, sei nicht mit dem hochgefährlichen Virus infiziert. Aufatmen allerorten. Auch der Bürgermeister zeigte sich zufrieden. „Man muss in solchen Fällen wirklich sehr vorsichtig sein“, so Peter Tschentscher (SPD). Es sei sehr schnell und sehr konsequent gehandelt worden.

Tatsächlich lief behördlicherseits bei dem Einsatz einiges aus dem Ruder. Peinliche Pannen und bedenkliche Versäumnisse überschatten das Vorgehen – im Ernstfall wären die Folgen wohl kaum überschaubar gewesen. Am Montag (7. Oktober) hat sich die Hamburger Sozialbehörde dann auf Anfrage zu den Vorwürfen geäußert und die Abendblatt-Recherchen damit umfänglich bestätigt. Insbesondere gab sie zu, dass – wie vom Abendblatt bereits am Donnerstag berichtet – keinerlei Daten von Mitreisenden des betroffenen Pärchens zur Kontaktnachverfolgung akquiriert worden sind.

Marburg-Virus in Hamburg? Peinliche Pannen im Hamburger Hauptbahnhof

Wenige Stunden nach dem Großalarm am 2. Oktober, als gar nicht klar war, ob das Paar infiziert war oder nicht, hatte die Behörde über den aktuellen Stand in der Sache informiert. Die Daten möglicher Kontaktpersonen des Pärchens im Zug, so hieß es in der Mitteilung, seien „vorsorglich“ erfasst worden. Wie die Behörde nun auf Abendblatt-Anfrage am Montag einräumen musste, ist dies aber nie passiert.

Rückblende: Wie der Sprecher der Hamburger Bundespolizei, Rüdiger Carstens, gegenüber dem Abendblatt am Donnerstag (3. Oktober) bestätigte, seien von seinen Kollegen am Hauptbahnhof „keine Daten von Zugreisenden in dieser Sache“ erhoben worden. Einfacher Grund: Der Zug, planmäßig um 13.14 Uhr in Hamburg erwartet, traf verspätet um 14.05 Uhr im Hauptbahnhof ein. Die Bundespolizei sei aber erst um exakt 15.31 Uhr um Amtshilfe gebeten worden, so Carstens.

Ihr Auftrag: dafür zu sorgen, dass keine weiteren Menschen auf den Bahnsteig zwischen Gleis 7 und 8 gelangen. Dort wartete nämlich – isoliert – das betroffene Pärchen, ehe es von der Feuerwehr mit dem Infektionsrettungswagen ins UKE gebracht wurde.

Das betroffene Pärchen wurde mit einem Infektionsrettungswagen ins UKE gebracht.
Das betroffene Pärchen wurde mit einem Infektionsrettungswagen ins UKE gebracht. © Michael Arning

Der junge Medizinstudent hatte zuvor in Ruanda einen Mann behandelt, der später nachweislich am Marburg-Fieber erkrankte. Nach dem Flug von Addis Abeba (Äthiopien) nach Frankfurt am Main – während der Fahrt im ICE mit rund 275 Menschen an Bord – entwickelten er und seine Partnerin Symptome, darunter marburg-typische wie Übelkeit und Erbrechen. Lange vor der Ankunft kontaktierte der Mann – in ernster Sorge um eine Infektion mit dem Marburg-Erreger – Hamburger Ärzte. Der mögliche Seuchen-Fall fiel sodann in die Zuständigkeit des Gesundheitsamtes im Bezirk Hamburg-Nord.

Medizinstudent hatte sich vor der Ankunft in Hamburg bei Ärzten gemeldet

Einen Auftrag, die Daten möglicher Kontaktpersonen zu erfassen, hatte die Bundespolizei nach Abendblatt-Informationen nicht erhalten. Es wäre ohnehin egal gewesen. Denn als die Bundesbeamten, wie erbeten, mit den Absperrungen gegen 15.30 Uhr begannen, gab es gar keine Fahrgäste mehr zu kontrollieren: Der Zug war längst weg, so Carstens. Kurioserweise stiegen in eben diesen ICE auf dem Rückweg nach Frankfurt am Main am Hauptbahnhof neue Passagiere ein, während die Einsatzkräfte immer noch unter Hochdruck arbeiteten. Zuvor soll der ICE im Betriebshof Hamburg-Langenfelde gereinigt worden sein – wenngleich nicht unter Dekontaminationsbedingungen.

Der über die Hintergründe des Einsatzes – Infektionsgefahr für Dritte – informierte Dienstgruppenleiter der Bundespolizei ergriff darauf die Initiative: Zug stoppen! Am Hauptbahnhof war der Zug allerdings buchstäblich abgefahren, die Beamten erwischten ihn erst am Bahnhof Harburg. Von dort sollte er planmäßig um 15.57 Uhr weiter in Richtung Lüneburg fahren. Eigentlich.

Kuriose Durchsage in Harburg: Wer hat die Zugtoilette benutzt?

Doch in Harburg wurden die Fahrgäste Zeuge einer seltsam klingenden Durchsage über die Zuglautsprecher: Alle Reisenden, die seit der Abfahrt im Hauptbahnhof eine der Zugtoiletten benutzt hätten, mögen sich zur Kontrolle an einem Ausgang des ICE einfinden, hieß es. Grund: Das betroffene Paar hatte in dem Zug auf seiner Reise nach Hamburg mehrmals unterschiedliche WCs benutzt. Weil das Marburg-Virus nur durch direkten engsten Kontakt von Haut oder Schleimhaut oder über Kontakt zu Körperflüssigkeiten übertragen wird, bestand für die Toilettennutzer ein zumindest theoretisches Infektionsrisiko.

Die Bundespolizisten nahmen in Harburg für das Gesundheitsamt die Personaldaten von rund 60 Fahrgästen auf. Nach Absprache mit dem Amt habe der Zug um 17.45 Uhr – mehr als anderthalb Stunden später – die Fahrt fortsetzen können, so Carstens.

Aufarbeitung des „Marburg“-Falls teilweise abgeschlossen

Das Abendblatt hat der Sozialbehörde und dem Bezirksamt Nord einen Fragenkatalog zugestellt. Die Sozialbehörde antwortete, dass Isolation, Diagnostik und Entwarnung der Bevölkerung in diesem Fall zunächst höchste Priorität hatten. Und: „Die genauen, detaillierten Abläufe werden Gegenstand einer Aufarbeitung in den kommenden Tagen sein“, sagte Sprecher Wolfgang Arnhold.

Ziel dieser Überprüfung sei es, „die Verfahrens- und Kommunikationsschritte in einem Seuchenverdachtsfall noch enger miteinander zu verzahnen und bei Bedarf Anpassungen vorzunehmen“, teilte die Sozialbehörde am Montag mit. In dem jetzt vorgelegten Zwischenfazit ging sie auch ausführlich auf die Fragen des Abendblatts vom Donnerstag vergangener Woche ein und schilderte den „Marburg“-Fall aus ihrer Sicht.

Behörde: Gesundheitsamt hat widersprüchliche Informationen erhalten

Demnach habe das zuständige Hamburger Gesundheitsamt am 2. Oktober widersprüchliche Informationen zum Aufenthaltsort des betroffenen Pärchens bekommen. Zunächst sei man davon ausgegangen, dass der Medizinstudent nach der Landung in Frankfurt mit dem Flugzeug nach Hamburg weitergereist sei. „Am Hamburger Flughafen wurden dementsprechend alle erforderlichen Maßnahmen für die Isolation und den Transport ergriffen“, sagte Arnhold. Telefonisch sei der Student zwischenzeitlich nicht erreichbar gewesen.

„Die Information, dass die Person mit dem ICE nach Hamburg gereist war, hat das zuständige Gesundheitsamt erst nach Eintreffen des Zuges am Hamburger Hauptbahnhof und nach Ausstieg der Fahrtgäste erreicht“, so Arnhold weiter. Das brauchte offenbar Zeit – fast 90 Minuten vergingen, bis Feuerwehr und Bundespolizei zur Tat schritten. „Die Polizei wurde in Amtshilfe tätig. Wegen der verspäteten Information war es – anders als zunächst angenommen und kommuniziert – allerdings nicht möglich, Kontaktdaten von den direkt Mitreisenden des um 14.05 Uhr am Hauptbahnhof eingetroffenen ICE zu erheben“, so Arnhold.

Im Ernstfall wären Kontaktpersonen „schnellstmöglich“ ausfindig gemacht worden

Die Bundespolizei habe den „routinemäßig gereinigten“ ICE, der auf dem Rückweg nach Frankfurt am Hauptbahnhof neue Passagiere aufnahm, erst gegen 16 Uhr im Bahnhof Harburg anhalten können. Dort seien dann die Kontaktdaten jener Reisenden aufgenommen worden, die in dem Zug zwischenzeitlich die Toilette besucht hatten.

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Und selbst im Ernstfall, so lässt es zumindest Behördensprecher Arnhold durchblicken, hätten die Behörden die Kontrolle behalten. „Die Meldekette im Fall eines positiven PCR-Testergebnisses hätte vorgesehen, dass die Sozialbehörde noch in der Nacht sofort informiert worden wäre“, so Arnhold. „Für den Fall eines positiven Testergebnisses wären dann über die Daten der Deutschen Bahn sowie über einen öffentlichen Aufruf Kontaktpersonen schnellstmöglich ausfindig gemacht worden.“