Hamburg. Jorge Guerra beschäftigt sich viel mit streitenden Eltern und den betroffenen Kindern. Seine Studienergebnisse dazu.
Es ist ein Sorgerechtsstreit, der derzeit viele beschäftigt. Die Hamburger Unternehmerin Christina Block und ihr Ex-Mann streiten seit Jahren vor Gericht um das Sorgerecht für zwei ihrer vier Kinder. Seit mehr als zwei Jahren leben die beiden Kinder bei ihrem Vater in Dänemark. In der Silvesternacht wurden sie aus Dänemark gewaltsam entführt. Wenige Tage später erließ das Hanseatische Oberlandesgericht eine einstweilige Anordnung, dass die Kinder zu ihrem Vater zurückmüssen.
Vielfach wird seitdem über das Thema Kindeswohl bei und nach Trennungen gesprochen. Jorge Guerra ist Experte für Sorgerechtsstreitigkeiten. Im Gespräch mit dem Abendblatt äußert er sich explizit nicht zu dem oben genannten Fall, sondern ordnet das Thema, das viele Familien in Hamburg und ganz Deutschland betrifft, generell ein.
Psychologe: Kinder entfremden ist eine Form von Misshandlung
Pro Jahr leiden nach Angaben von Guerra bis zu 20.000 Kinder darunter, dass eines ihrer Elternteile versucht, sie von dem anderen zu entfremden. Soll heißen, dass sie alles dafür tun, damit die Kinder den Vater oder die Mutter nicht mehr sehen möchten. Doch nicht nur die betroffenen Jungen und Mädchen haben mit den Folgen eines solchen Verhaltens zu kämpfen. Auch der entfremdete Elternteil leidet. Der Jurist und Psychologe arbeitet derzeit an einer Studie über betroffene Eltern, die in wenigen Wochen vorgestellt werden soll.
„Der Schaden bei den Eltern ist den Indizien nach immens, wie wir beobachten können“, sagt Guerra. Schließlich wirke sich die Elternschaft sowohl bei Vätern als auch bei Müttern laut neusten Forschungen auf den Körper genauso wie auf das Gehirn aus. „Und plötzlich ist das Kind weg. Das hat, was bislang festgestellt werden konnte, einen großen Einfluss auf Körper und Geist der Betroffenen.“ Viele würden in ein tiefes Loch fallen, aus dem sie nicht mehr herauskämen.
Jorge Guerra arbeitet als Mediator und Verfahrensbeistand für Kinder
Guerra weiß, wovon er spricht. Der 53-Jährige arbeitet seit vielen Jahren mit Familien, die in Scheidung leben oder in denen ein Sorgerechtsstreit herrscht. Als Mediator, aber auch als Verfahrensbeistand für die betroffenen Kinder selbst. Außerdem lehrt er an der Leuphana Universität Lüneburg.
Angefangen hat allerdings alles mit einer Bachelorarbeit unter dem Titel „Kindesentfremdung als Kindeswohlgefährdung“, für die er 55 Erwachsene befragte. Ehemalige Kinder aus intakten Familien, aus Trennungsfamilien und die sogenannten Entfremdungskinder, denen der Kontakt zu einem Elternteil untersagt wurde oder die dazu gebracht wurden, einen Elternteil abzulehnen.
Menschen, die entfremdet wurden, leiden auch im Erwachsenenalter
Die Ergebnisse seiner Befragung waren erschreckend. „Diesen, ehemals entfremdeten Erwachsenen geht es psychisch, aber auch physisch schlecht, oftmals sehr schlecht“, sagt der Psychologe. Ihre Lebenszufriedenheit sei viel schlechter, als die der anderen Probandengruppen.
Die Menschen würden an Depressionen leiden, aggressiv sein oder sogar in die Kriminalität abrutschen. Dabei sei er sicher, dass die Betroffenen, die mit ihm gesprochen hätten, noch relativ gefestigt seien. „Die Menschen, denen es ganz schlecht geht, die wären gar nicht in der Lage gewesen, an meiner Befragung teilzunehmen.“ Sein Ergebnis: Eine Entfremdung kann man problemlos als Kindeswohlgefährdung bezeichnen.
Gründe für eine Entfremdung sind sehr unterschiedlich
Der Jurist und Psychologe hat verschiedene Gründe für ein solches Verhalten festgestellt, wie etwa Rache, der Wunsch der Machtausübung über andere und Geld. Oder auch die Gründung einer neuen Familie, bei der die „alte“ Mutter oder der „alte“ Vater stören würde. „In keinem solchen Fall ging es wirklich um das Wohl der Kinder“, sagt er.
Das Problem: Würden die Jungen und Mädchen nach Monaten oder manchmal sogar Jahren dann von Jugendämtern oder Gerichten befragt, sprechen sie sich oft gegen das entfremdete Elternteil aus. Die Kinder würden nicht ihre wirklichen Gefühle offenbaren, sondern die, die ihnen eingetrichtert wurden. Andere tätigen aus Angst falsche Aussagen, so der Experte.
Aussage eines Kindes ist nicht gleichzusetzen mit dem Kindeswohl, so der Experte
Der Jurist und Psychologe bezeichnet es als zwiespältig, dass die Familiengerichte bei ihren Entscheidungen immer mit dem Kindeswohl argumentieren müssen. „Denn das, was die Kinder bei Befragungen äußern, muss nicht automatisch mit dem Kindeswohl gleichbedeutend sein.“ Auf diese Weise bestünde die Gefahr, dass das eigentliche Ziel, das Beste für die Kinder zu wollen, ins Gegenteil verkehrt würde.
Guerra findet insgesamt, dass noch einiges für diese betroffenen Kinder und auch Eltern getan werden könnte. Dabei würde es nach seinen Schätzungen etwa 20.000 Jungen und Mädchen jedes Jahr in Deutschland betreffen. Und natürlich die dazugehörigen Eltern oder andere Familienangehörige. „Das ist insgesamt eine bedeutsame Zahl, wenn man das hochrechnet.“
In Deutschland wird das Thema Kindesentfremdung nicht konsequent verfolgt
„Was fehlt, ist nicht selten ein allgemeines Unrechtsbewusstsein bei diesem Thema“, sagt Guerra. Und das von allen Seiten, von den betroffenen Eltern, genauso wie von den Behörden und den Gerichten. „Denn eigentlich sei Entfremdung rechtlich nicht erlaubt, dem werde aber nicht wirklich nachgegangen.“ Andere Dinge, die vielleicht weniger relevant seien, würden in Deutschland deutlich schärfer verfolgt. „Und das macht es kompliziert.“
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„Wenn beispielsweise der Verdacht einer körperlichen Misshandlung besteht oder eines sexuellen Missbrauchs, können die Kinder sogar aus den Familien genommen werden. Natürlich zu Recht.“ Bei einer psychischen Misshandlung wie einer Entfremdung geschehe das allerdings bisher nicht. „Da können die Kinder allerdings doch genauso geschädigt werden, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse belegen.“ Der Experte klagt an: „Es ist wichtig, dass Deutschland für dieses Thema ebenfalls sensibilisiert wird – auch hier geht es um unsere Kinder.“
Kindesentfremdung: Psychologe will Eltern und Kindern helfen
Guerra selbst treibt der Wunsch nach Gerechtigkeit an. Deshalb versucht der dreifache Vater so viele Familien wie möglich zu unterstützen und forscht mit seinen Studenten zu dem Thema. „Solche Manipulationen kann man insbesondere als Umgangspfleger einfacher feststellen, weil man länger bei einer Familie bleiben kann. Daher möchte ich daran mitwirken, dass sich etwas ändert.“ Er fordert: „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Recht vor diesen Menschen, die Kinder derart misshandeln, kapituliert. Auch diese Kinder, diese Familien, verdienen unseren Schutz.“
Außerdem möchte er erreichen, dass es zumindest dem einen oder anderen Kind oder Elternteil vielleicht ein wenig besser geht. „Ich zeige beispielsweise auch Eltern, wie sie besser miteinander umgehen können.“ Dies gelingt mir durch meine Mediationsausbildung selbst unter solchen Umständen recht häufig. „Das Ziel muss es sein, dass beide Eltern den Kindern erhalten bleiben.“ Das sei für alle Beteiligten das Beste, selbst bei Entfremdungsfällen.