Hamburg. Eine junge Frau aus Israel will Aufmerksamkeit schaffen – und berichtet von zwei entführten Familien, die sie persönlich kennt.
Auf ihrem Handy ploppen ständig neue Nachrichten auf. Seit dem 7. Oktober lebt Maayan (ihren Nachnamen möchte die Hamburgerin aus Angst vor Übergriffen nicht nennen) wie so viele Menschen in einem Ausnahmezustand. Vor Kurzem noch war die 39-Jährige zu Besuch bei ihrer Familie in Israel. Sie ist erst eine Woche vor dem Angriff der Hamas zurück nach Hamburg gekommen, wo sie seit fast zehn Jahren mit ihrem Mann lebt.
„Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, in Hamburg auf das Schicksal meiner Landsleute aufmerksam zu machen. Das machen auch viele andere Israelis“, sagt die junge Frau. Zu zwei der verschleppten Familien hat sie eine persönliche Verbindung.
Krieg in Israel: Eine junge Hamburgerin hat persönliche Kontakte zu Geiseln
Eine dieser Familien ist die von Yoni Asher, der auf dieselbe Schule ging wie sie und der Cousin ihrer Freundin ist. Der Israeli vermisst seit dem Angriff der Hamas seine Frau Doron und seine beiden kleinen Töchter, die zweieinhalbjährige Aviv und die viereinhalbjährige Raz. Sie alle haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit und wurden von der Hamas verschleppt. Davon gibt es bedrückende Filmaufnahmen, auf denen die Terroristen im Hintergrund ständig „Allahu akbar“ skandieren.
In einem CNN-Interview sagt der verzweifelte Yoni Asher: „Ich möchte, dass sie wissen, dass ich von ganzem Herzen liebe.“ Das Schlimmste als Vater sei, mit der Schuld zu leben, „dass meine Mädchen, wenn sie noch am Leben sind, denken, warum kommt Papa nicht, um uns zu holen“.
Krieg in Israel: Vermisste Mutter war mit ihren Kindern zufällig im Süden zu Besuch
„Doron hat mit ihren Kindern ihre Mutter im Kibbuz im Süden Israels besucht“, sagt Mayaan, und Tränen laufen über ihr Gesicht. Am Mittwoch bekam sie die Nachricht aus Israel, dass der Tod von Dorons ebenfalls entführter Mutter inzwischen bestätigt wurde. Es sei ein Glück, sagt Yoni Asher im CNN-Interview, dass die Großmutter seiner Frau, die den Holocaust überlebt hat, das nicht mehr erleben musste. Sie war erst kürzlich gestorben.
Maayan, die selbst einen dreieinhalbjährigen Sohn hat, sagt, sie sei seit Kriegsbeginn im Überlebensmodus: „Es ist immer noch ein Albtraum. Obwohl der Begriff dafür zu klein ist, aber man muss einfach weitermachen.“ Es gebe ja keine Alternative, auch für die Familien in Israel nicht.
Krieg in Israel: Familie wurde entführt – einige haben europäische Pässe
Die Hamburgerin berichtet von einer weiteren Familie, der Familie Haran. Aus einem Kibbuz in Beeri im Süden Israels seien elf Familienmitglieder entführt worden – Großeltern, Sohn und Schwiegertochter, drei Kinder im Alter zwischen drei und 13 Jahren und weitere Personen, von denen „mehrere deutsche, italienische und österreichische Staatsangehörigkeiten“ haben, so Mayaan. Ein Hausangestellter der Familie sei inzwischen tot aufgefunden wurden. Das Haus der Familie sei niedergebrannt worden. Bislang gebe es keine Lebenszeichen von der Familie.
Auch ihr Leben habe sich verändert. Seit dem Kriegsbeginn hätten sich die Israelis in Hamburg eng zusammengeschlossen. „Wir sind eine große Familie geworden. Wir treffen uns in Häusern, viele sind aktiv in den sozialen Medien, geben Interviews, versuchen Aufmerksamkeit auf die Entführten zu lenken.“ Denn es gebe keine Person in Israel, die nicht von dem Terrorangriff betroffen sei oder jemanden kennt, der betroffen ist. „Manche sind an einem Tag auf mehreren Beerdigungen.“
Hamburgerin will den Opfern des Krieges in Israel ein Gesicht geben
Sie sehe ihre Rolle jetzt darin, betroffene Familien in Israel zu unterstützen. „Wenn man ein Gesicht von einer Geisel sieht, versteht man besser, wir reden da von echten Menschen. Es gibt sogar Holocaust-Opfer, die jetzt nach Gaza entführt wurden. Das ist unvorstellbar.“ Und wieder laufen Tränen.
Die Grenze von Gaza nach Israel sei durchlässig gewesen. Viele Handwerker aus dem Gaza seien regelhaft zum Arbeiten nach Israel gekommen, sagt die Israelin. „Vielleicht kannten sie deshalb die Örtlichkeiten so gut und wussten genau, wo welche Familie lebt.“ Es habe auch viel humanitäre Hilfe für Bewohner aus dem Gaza gegeben. „Meine Mutter ist seit 40 Jahren Kinderkrankenschwester, sie hat vielen Kindern aus Gaza geholfen. Ihre Eltern durften sie zur medizinischen Behandlung begleiten.“
Sorge vor Terror in Europa: „Kein Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, es ist viel größer.“
Aber endlich mache die Welt jetzt die Augen auf, sagt die Israelin, die als Barista in einem Hamburger Restaurant arbeitet. „Es ist ja nicht das erste Mal, dass es terroristische Attacken gab. Es ist auch kein Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, es ist viel größer.“ Es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch Europa betroffen sei. Wenn der Terror nicht ernst genommen werde, werde er sich auch hier ausbreiten.
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Schon lange fühle sie sich unsicher dabei, auf der Straße Hebräisch zu sprechen. Und auf ihrem Handy hat sie die israelischen Apps erst ganz weit hinten, ihre Startseite sei unverfänglich, falls doch jemand in der Bahn auf ihr Display guckt. Viele Juden in Hamburg fühlen sich nicht mehr sicher. Aber sie will weiter Stellung beziehen. So wie ihre Freundin, die mit Gleichgesinnten in Guerilla-Aktionen Plakate von verschleppten Menschen aus Israel in der Stadt plakatiert, um bei den Hamburgern für Aufmerksamkeit zu sorgen.
Israel: Vater der entführten Kinder wendet sich an Kanzler Olaf Scholz
Auch Yoni Asher hofft auf politische Unterstützung der Deutschen bei der Befreiung der Geiseln, denn seine Familie habe deutsche Pässe: „Ich appelliere an alle, an jede mögliche Autorität. Deutsche Regierung, Olaf Scholz, melden Sie sich. Ich will, dass Sie sich einmischen. Ich möchte, dass er seine Stimmer erhebt und sagt, dass es deutsche Staatsbürger in Gefangenschaft gibt, dass jemand etwas tun muss. Ich glaube, sie haben es uns versprochen, an einem bestimmten Punkt in der Geschichte, mit einem Satz, der besagt: ,Nie wieder‘. Wenn Sie es uns also versprochen haben, sollten Sie dieses Versprechen auch halten.“