Hamburg. Probleme mit Obdachlosen im Kontorhausviertel nehmen zu. Anwohner und Händler fühlen sich alleingelassen, jetzt kommt die Offensive.

Wim ist der erste Gast im Café am Chilehaus an diesem Freitagmorgen. Und der einzige. Noch hat das Café gar nicht geöffnet, aber Wim (63), der in Wirklichkeit anders heißt, hat auf einer der Bänke im Freien Platz genommen, seinen Rucksack abgelegt und sich eine Zigarette angezündet. Vor 13 Jahren ist er aus den Niederlanden nach Hamburg gekommen, schon damals war er obdachlos.

Warum er hier gelandet ist? Wim zuckt mit den Achseln: „Da war ein Bus, der nach Hamburg fuhr.“ In seiner Heimat habe ihn die Polizei ständig verscheucht. Hier werde er in Ruhe gelassen. Die Straßen der südlichen Altstadt sind sein Zuhause geworden. „Und hier bleibe ich auch“, sagt Wim.

Gestrandete wie er gehören im Unesco-Weltkulturerbe Kontorhausviertel längst zum Straßenbild, ebenso wie die verzierten Backsteinfassaden der historischen Bürohäuser. Wo hier Touristengruppen staunend die Hälse recken, suchen dort zerlumpte Gestalten in Mülleimern nach Verwertbarem.

Hamburger City: Drogensüchtige hinterlassen Dreck und Fäkalien im Kontorhausviertel

Zur Zweiradperle an der Altstädter Straße kommen sie beide: die Touristen, um sich ein Fahrrad zu leihen oder an einer geführten Tour teilzunehmen; und die Obdachlosen, um einen trockenen Schlafplatz zu haben.

„Es hat sich herumgesprochen, dass man vor unserer Tür liegen kann“, sagt Geschäftsführer Steve Möller. „Das ist auch okay, solange sie sich benehmen.“ An heißen Sommertagen habe er den Kampierenden schon mal einen Kasten Wasser vor sein Geschäft gestellt. Oder ihnen angeboten, sein Bad zu nutzen.

Zweiradperle-Betreiber Steve Möller (50) und Praktikant Major Tesfamaryam (32).
Zweiradperle-Betreiber Steve Möller (50) und Praktikant Major Tesfamaryam (32). © Funke Medien Hamburg | Achim Leoni

Doch seit einiger Zeit funktioniere diese Art der Nachbarschaft nicht mehr. Immer häufiger sehe er Menschen, die Hauseingänge als Toilette benutzen, offen Drogen konsumieren und Dreck hinterlassen. An seine Eingangstür hat Möller (50) einen Zettel gehängt, auf dem er in vier Sprachen darauf hinweist, dass „die Grünfläche vor diesem Laden keine Toilette“ sei.

In vier Sprachen bittet die Zweiradperle darum, die Grünanlage an der Altstädter Straße nicht als Toilette zu benutzen.
In vier Sprachen bittet die Zweiradperle darum, die Grünanlage an der Altstädter Straße nicht als Toilette zu benutzen. © Funke Medien Hamburg | Achim Leoni

Genutzt habe es wenig: „Einige sind leider unbelehrbar.“ Ein Teil der Pflanzen ist bereits eingegangen. Drogenabhängige verscharrten zudem ihre Rauschgiftpäckchen in der Erde. Die Kundschaft reagiere zunehmend verunsichert. „Das ist schon geschäftsschädigend“, sagt Möller, „wir fühlen uns hier alleingelassen.“

Hamburg City: Caritas bietet Obdachlosen Beratung und medizinische Versorgung

Ähnlich geht es auch Menschen im benachbarten Altstädter Hof, einem von nur drei Wohnhäusern im Kontorhausviertel. 230 Wohnungen und fast 50 Geschäfte umfasst das denkmalgeschützte 30er-Jahre-Backsteinensemble zwischen Altstädter und Steinstraße. Seit 2015 gehört es zum Bestand des städtischen Wohnungsunternehmens Saga.

Wer hier wohnt, hat mit Obdachlosen zu tun. Mehr als 20 Jahre lang war das Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“ im Innenhof ansässig. Vor knapp zwei Jahren übernahm die Caritas die Räumlichkeiten an der Altstädter Twiete und nutzt sie seither als Tagestreff. Obdachlose erhalten im „CariCare“ werktags soziale Beratung und medizinische Versorgung, können in der Küche frisches Essen zubereiten oder ihre Habseligkeiten in Schließfächern unterbringen.

Schmutz im Kontorhausviertel: „Das Welterbe wird zugeschissen“

Von guter Nachbarschaft kann aber offenbar keine Rede mehr sein. „Ruhestörungen, Geruchsbelästigungen, Fäkalien vor unseren Haustüren und der offene Drogenkonsum sind präsenter denn je“, heißt es auf einem Flugblatt, das eine Mietergemeinschaft in der Nachbarschaft verteilt hat.

Tatsächlich halten sich auch an diesem Freitagmorgen Obdachlose vor statt in der Einrichtung auf. Am Treppenaufgang zum Innenhof liegt Müll, neben der Garageneinfahrt verbreiten Fäkalien beißenden Gestank. Ein Gewerbetreibender drückt es drastisch aus: „Das Welterbe wird zugeschissen.“

Fäkalien und Müll vor der Tiefgarage des Altstädter Hofs.
Fäkalien und Müll vor der Tiefgarage des Altstädter Hofs. © Funke Medien Hamburg | Achim Leoni

Doch die Verschmutzungen sind es nicht allein. In einem offenen Brief, der im Internet veröffentlicht wurde, werden weitere Missstände aufgelistet. Schon früh am Morgen dringe Lärm in die Wohnungen. Starker Alkohol- und sogar Drogenkonsum außerhalb des Gebäudes werde durch die Caritas geduldet. Gespräche mit Saga, Caritas, Sozialbehörde, Polizei und Bezirksamt hätten nicht zur Verbesserung beigetragen.

Altstädter Hof in Hamburger City: Mietergemeinschaft lädt zu Austausch

„Wir versuchen seit eineinhalb Jahren, es diplomatisch zu lösen, aber die Türen werden zugeschlagen“, sagt eine junge Anwohnerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Seitdem die Drogenszene zunehmend von Hauptbahnhof und anderen Innenstadtbereichen vertrieben werde, habe sich die Situation verschärft. Frauen seien besonders betroffen, sie würden häufiger auf der Straße belästigt. Eine Familie mit einer jungen Tochter sei deshalb schon weggezogen.

Für Mittwochabend (4. Oktober) hat die Mietergemeinschaft nun Anwohner, Medien und Politik zu einem Austausch in das Lokal „Kombüse“ geladen. Gastgeber Miguel Pauer wohnt selbst im Viertel. Seine „Alt-Hamburger Bierstube“ betreibt er seit 26 Jahren. Die Obdachlosen seien nicht unbedingt mehr geworden, aber die Drogenabhängigen unter ihnen. Erst kürzlich habe einer seine Gäste beschimpft. „Aber die Polizei kann da nichts machen.“

Miguel Pauer (55) vor seiner „Kombüse“ an der Springeltwiete.
Miguel Pauer (55) vor seiner „Kombüse“ an der Springeltwiete. © Funke Medien Hamburg | Achim Leoni

Bei der Caritas weiß man um die Probleme. „Wir haben die Mieter in unsere Einrichtung eingeladen“, sagt Sprecher Timo Spiewak, „und wir wissen auch, dass die Situation für sie und die Gewerbetreibenden eine Belastung ist.“

Doch die Caritas könne nicht „für alles vereinnahmt werden, was ringsum nicht läuft“: etwa dass die Zahl der Obdachlosen zunehme und es viel zu wenige kostenlose Sanitäranlagen gebe. Nach Angaben der Diakonie stieg die Zahl der in Notunterkünften lebenden Wohnungslosen in Hamburg zuletzt von 19.000 innerhalb eines Jahres um 70 Prozent auf 32.000. Hinzu kämen geschätzt 2000 Menschen, die auf der Straße leben.

Der Caritas-Standort vor Ort werde von den Bedürftigen gebraucht und von der Stadt auch gewünscht, sagt Spiewak. Dass die Obdachlosen sich im Innenhof aufhielten, habe man thematisiert. „Aber letztlich ist das ihre freie Wahl. Wir schicken niemanden nach draußen.“ Immerhin: Über eine Änderung der Öffnungszeiten werde nachgedacht. Sie zu verlängern bedeute aber mehr Personalaufwand und auch höhere Kosten.

Saga weist Vorwürfe zurück und prüft Maßnahmen für Altstädter Hof in Hamburg

Auch der Saga sind die Klagen ihrer Mieter am Altstädter Hof bekannt. „Vor diesem Hintergrund gab es bereits zahlreiche Gespräche“, sagt Sprecher Gunnar Gläser. Bauliche Veränderungen oder eine nächtliche Schließung des Innenhofs seien aufgrund des Denkmalschutzes nicht möglich. Andere Maßnahmen, zum Beispiel „ein durch die Caritas zu beauftragender Wachschutz sowie Reinigungen der öffentlich zugänglichen Bereiche in kurzen Abständen“, seien aber „in Prüfung“.

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„Wir werden auch bei den künftigen Gesprächsrunden Mietervertreter aktiv einladen, um die Lösungsansätze zu diskutieren“, sagt Gläser. Den Vorwurf, es gebe keinen festen Ansprechpartner, lässt er nicht gelten: „Mit unseren residenten Hauswarten und dezentralen Geschäftsstellen sind wir in den Quartieren und Nachbarschaften persönlich präsent und für unsere Mieterinnen und Mieter direkt ansprechbar.“

Der Mietergemeinschaft reicht das nicht. Sie hat eine Online-Plattform eingerichtet, auf der Beweisbilder und -videos sowie ein „Lärmtagebuch“ hochgeladen werden können. Ende November sollen die Daten der Saga übergeben werden.