Hamburg. Das kleine Mädchen erlitt ein Schütteltrauma. Vater muss fast acht Jahre in Haft. Ein Fall, der Hamburg erschüttert hat.
Ihr Leben hatte gerade erst angefangen. Zwölf Wochen war Sandra (Name geändert) alt, so sehr auf Zuwendung und Liebe angewiesen. Doch dann wurde dem kleinen Mädchen Gewalt angetan. Die letzten Tage ihres Lebens verbrachte der Säugling im UKE, wo Ärzte um sein Leben kämpften. Vergebens. Sandra war nicht mehr zu retten.
„Gestorben mit zwölf Wochen“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel im Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ des Hamburger Abendblattes. „Dabei hätte das kleine Mädchen noch so viel vor sich haben können. Die ersten Schritte, die ersten Worte, der erste Schultag, der erste Kuss … Unendlich viele schöne Erlebnisse und Erfahrungen hätte sie machen sollen! Doch nichts davon ist ihr vergönnt. Das erschüttert mich als engagierten Mediziner und bekennenden Großvater ganz besonders.“
Prozess gegen den Vater, nachdem der Säugling gestorben ist
„Mich ebenso“, meint Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Der Fall hat mich sehr betroffen gemacht. Die Frage stellte sich, wieso Sandra so früh sterben musste? Ihr Schicksal war später Thema in einem Prozess vor dem Schwurgericht Hamburg. Hier sollte geklärt werden: Hat ihr Vater sie so schwer verletzt, dass sie starb? Oder war es ein Unfall?“
„Tatsache ist: Am 15. Mai 2021 ist der kleinen Sandra etwas sehr Schlimmes widerfahren“, berichtet Püschel. „Der Vater des Säuglings war eine Weile lang allein mit dem Baby zu Hause. In dieser Zeit hat sich der Gesundheitszustand von Sandra dramatisch verändert. Plötzlich war sie bewusstlos, ein Häuflein Elend. Schließlich wurde entschieden, dass die Maschinen auf der Kinder-Intensivstation, die dafür sorgten, dass Sandras kleines Herz weiter schlägt, abgeschaltet werden sollten.“
Staatsanwaltschaft wirft dem Vater Totschlag vor – es geht ums Schütteltrauma
Was also war in der kurzen Zeit, die die Mutter an jenem 15. Mai 2021 beim Einkaufen war, genau geschehen? Das sollte im Prozess vor dem Landgericht herausgefunden werden, wo sich der Vater der kleinen Sandra schließlich wegen Totschlags an seiner Tochter verantworten musste. Die Staatsanwaltschaft warf dem Vater Patrick G. (Name geändert) vor, seine Tochter heftig geschüttelt und ihren Kopf gegen einen Widerstand geschlagen zu haben.
Dadurch erlitt das Mädchen laut Anklage eine Schädelfraktur, schwere Hirnblutungen und Einblutungen in die Netzhäute. Eine Woche später erlag der Säugling seinen massiven Verletzungen. Zusammenfassen lässt sich der Befund, der in der Rechtsmedizin getroffen wurde, unter dem Stichwort „Schütteltrauma“.
Prozess: Notruf zeigt, dass der Vater erstaunlich gelassen ist
„Was man sicher weiß, ist, dass der 31-Jährige jedenfalls gemerkt hat, dass es seiner Tochter plötzlich schlecht geht“, erzählt Mittelacher. „Er hat nämlich den Notruf gewählt: erst den der Polizei, dann den der Feuerwehr. Wirklich erstaunlich“, findet Mittelacher, „wie ruhig und gelassen der Vater bei diesen Notrufen gesprochen hat. So hat es auch ein Pizzabote, der damals eine Essenslieferung bei der Familie abgegeben hat, als Zeuge berichtet. Dieser Pizzabote erzählte, dass Patrick G. ,sehr entspannt‘ gewirkt habe.“
Ursprünglich hatte der Vater der kleinen Sandra angegeben, er sei mit seiner Tochter auf dem Arm ausgerutscht und hingefallen. „Aber wenig später war alles anders“, erzählt Mittelacher. „Da wird Patrick G. verhaftet. Hintergrund war, dass die Ärzte in der Kinderklinik des UKE den Verdacht hegten, dass die Geschichte vom Unfallsturz nicht stimmt. Daraufhin haben die Mediziner die Polizei verständigt. Die schweren Verletzungen, die das Kind erlitten hatte, passten einfach nicht zu der Erzählung des Vaters.“
Schütteltrauma: Schwerste Verletzungen entstehen, wie ein „Beben im Kopf“
„Allerdings nicht“, bestätigt Püschel. „Bei dem Befund muss man als rechtsmedizinischer Experte deutliche Zweifel anmelden. So, wie der Vater es geschildert hat, konnte es schlicht nicht gewesen sein. Sandra hatte unter anderem Hirnblutungen, der Hirndruck war stark erhöht, der Schädel gebrochen. Da sprach vieles für massive Gewalteinwirkung, nicht nur für einen Sturz, so wie es der Vater erzählt hatte.“
„So haben das ja auch die Sachverständigen im Prozess ausgeführt“, erzählt Mittelacher. „Nach den Untersuchungen deutete viel auf ein Schütteltrauma-Syndrom hin.“ Püschel erklärt: „Von einem Schütteltrauma sprechen Mediziner, wenn ein Säugling am Rumpf oder an den Armen gepackt und heftig geschüttelt wird, sodass der Kopf des Kindes peitschenartig vor- und zurückfliegt. Dabei entstehen häufig schwerste, mitunter sogar tödliche Verletzungen. Ich nenne das, was im Kopf des Säuglings passiert, ,Beben im Kopf‘.“
Angeklagter: „Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle“
„Entsprechend der Diagnose ,Schütteltrauma‘ hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung ausgesagt“, berichtet Mittelacher. „Er hat nicht mehr, wie ursprünglich im Ermittlungsverfahren, allein davon gesprochen, dass er im Badezimmer mit seiner Tochter auf dem Arm gestürzt sei. Jetzt ergänzte er, er sei mit dem Säugling auf dem Arm über ihre Babywanne gefallen und gestürzt.
Daraufhin habe sich das Kind nicht mehr bewegt. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe ihr ins Gesicht gepustet. Als das nicht geholfen hat, habe ich sie geschüttelt“, sagte der 31-Jährige. „Ich hatte mich nicht mehr im Griff. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle.“
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„Bei der Obduktion wurde doch noch eine weitere, ungewöhnliche Verletzung festgestellt, oder?“, will Mittelacher wissen.
„Ja“, bestätigt Püschel. „Es gab bei Sandra eine ungewöhnliche Schädelfraktur, die einmal quer über den Kopf verlief. Diese Fraktur sprach dafür, dass auf den Kopf des Säuglings eine Form von Stoß eingewirkt haben muss. Wahrscheinlich sogar eine gleichzeitige Gewalteinwirkung auf beide Seiten des Schädels beziehungsweise eine Art Quetschung. Denkbar ist übrigens auch, dass eine solche Verletzung entsteht, wenn ein großer und schwerer Mann wie der Angeklagte auf den Kopf des Säuglings fällt.“
Säugling gestorben, weil Vater für kurzen Moment die Nerven verloren hat
Am Ende verhängt das Gericht im Prozess eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten gegen Patrick G. „Das Gericht ist überzeugt, dass Patrick G. einen Totschlag an seiner Tochter begangen hat“, berichtet Mittelacher.
„,Der Angeklagte wird sein Leben lang mit der Schuld leben müssen, sein eigenes Kind totgeschüttelt zu haben‘, sagt der Vorsitzende Richter im Urteil. Der Säugling sei gestorben, „weil der Vater für einen kurzen Moment die Nerven verloren hatte. Wer einen Säugling so heftig schüttelt, wie Patrick G. es tat, erkennt die tödliche Gefahr, in die er das Kind bringt. Das ist Allgemeinwissen.“