Hamburg. Wie eine enthusiastische Schar Wissenschaftler 1964 den ersten Beschleuniger des Bahrenfelder Forschungszentrums in Gang brachte.

Das Jahr 1964 sollte zu einem Triumph werden für die deutsche Teilchenforschung und vor allem für Hamburg – doch es begann für die Beteiligten mit Problemen. In Bahrenfeld hatte eine verschworene Schar von Wissenschaftlern um den international angesehenen Kernphysiker Willibald Jentschke lange an einem neuartigen Messinstrument getüftelt. Die meisten Teammitglieder waren unerfahren, was den Bau wissenschaftlicher Großgeräte anging, aber voller Enthusiasmus – denn sie erhofften sich von ihrer Maschine neue Erkenntnisse zu der fundamentalen Frage, aus welchen Grundbausteinen unsere Welt besteht und was sie im Innersten zusammenhält.

Dann starteten die ersten Tests – und Niedergeschlagenheit machte sich breit. „Es funktionierte einfach nicht“, erzählt Paul Söding, der damals mit 30 Jahren als Willibald Jentschkes Assistent dabei war. Mit Schwierigkeiten hatten die Forschenden zwar gerechnet. „Alles war an der Grenze dessen, was technisch möglich war“, sagt Söding. Aber die Fehlersuche zog sich hin. Die Unruhe wuchs. „Das ging tagelang so – man war in höchster Sorge“, so schildert es der heute 90-Jährige.

Hamburg-Bahrenfeld: Wie der erste Beschleuniger des Desy startete

Willibald Jentschke (M.) und Teammitglieder feiern im Desy-Kontrollraum den Start des Beschleunigers am 25. Februar 1964.
Willibald Jentschke (M.) und Teammitglieder feiern im Desy-Kontrollraum den Start des Beschleunigers am 25. Februar 1964. © DESY

Stimmten die Berechnungen nicht? Die Ingenieure und Physiker überprüften Komponenten, führten Messungen durch, suchten weiter, bis sie auf ein mechanisches Problem stießen: Ein Ventil öffnete sich nicht ordentlich. Die Gruppe schöpfte wieder Hoffnung.

Am 25. Februar gegen 22.30 Uhr machten Jentschke und seine Mitstreiter in dem neuen Kontrollraum ihrer Anlage einen weiteren Versuch, hantierten mit Schaltern und Drehregeln an Konsolen. Dann zeigten die Anzeigegeräte: Es hatte geklappt! Durch die Vakuumröhre in dem 317 Meter langen, ringförmigen Beschleuniger vom Typ Synchrotron war ein Strahl aus Elektronen gerast, insgesamt gut 8000-mal im Bruchteil einer Sekunde.

Die Forschenden jubelten. „Wir standen mit unseren Experimenten in den Startlöchern, wollten tief in das Innere der Materie gucken“, erzählt Paul Söding. „Es begann eine wunderbare Zeit.“

Physik Hamburg: Amerikanische Forschende dominierten Teilchenphysik

Nun galt es, Boden gutzumachen gegenüber der internationalen Konkurrenz. Bis dahin dominierten die USA die Teilchenphysik. In den Vereinigten Staaten hatten schon 1952 und 1954 zwei große Maschinen zur Beschleunigung von Protonen (Teilen des Atomkerns) ihre Arbeit aufgenommen. Zudem begannen Physiker der Universität Harvard und des MIT 1956 mit dem Bau des Cambridge Electron Accelerator, der auf Elektronen setzte.

Um nicht den Anschluss zu verlieren, hatten die Europäer bereits 1954 das Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf gegründet und planten dort große Protonen-Beschleuniger. Ergänzen könnte solche Instrumente die Hamburger Anlage, so die von Willibald Jentschke und weiteren Forschenden vertretene Idee. Der gebürtige Wiener hatte sich in den USA einen Namen gemacht, war dann dem Angebot der Universität Hamburg gefolgt, als Professor in der Hansestadt zu arbeiten und ein neues Physikinstitut aufzubauen – samt des geplanten neuen Großforschungsgeräts. Dessen Bezeichnung sollte dem entstehenden Forschungszentrum in Bahrenfeld seinen Namen geben: Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY.

Lange Verhandlung mit Hamburger Behörden über Forschungsgelder

Jentschke rang ein Jahr lang mit Hamburger Behörden um die Konditionen. „Sein Verhandlungsgeschick galt als legendär: Mit jeder Runde schraubte er seine Forderungen immer höher, bis der Hamburger Senat im August 1955 die damals ungeheuerliche Summe von 7,35 Millionen DM an Forschungsgeldern bewilligte – einer der finanziellen Grundsteine für DESY“, heißt es in einer später erstellten Broschüre des Forschungszentrums.

Die ersten Bauarbeiten begannen 1958. „Die Apparate, die in Bahrenfeld aufgestellt werden sollen, haben furchterregende Ausmaße“, schrieb das Abendblatt anlässlich eines Richtfestes am 23. Oktober 1958. „Aber niemand braucht vor ihnen Angst zu haben, denn sie erzeugen nur winzige Strahlungsmengen, die keinen Schaden anrichten können.“

Hamburg-Bahrenfeld: Warum Desy auf einen Elektronen-Beschleuniger setzte

Der erste Teilchenbeschleuniger am Desy: das 317 Meter lange, ringförmige  Synchrotron. In der Mitte lag der Kontrollraum. Diese Aufnahme entstand im Jahr 1965.
Der erste Teilchenbeschleuniger am Desy: das 317 Meter lange, ringförmige Synchrotron. In der Mitte lag der Kontrollraum. Diese Aufnahme entstand im Jahr 1965. © DESY

Der Grundstein für das Ringtunnel-Gebäude, das den Beschleuniger aufnehmen sollte, wurde Anfang 1959 gelegt. Am 18. Dezember setzten im Hamburger Rathaus der damalige Bundesminister für Atomenergie und Wasserwirtschaft, Siegfried Balke, und der Hamburger Bürgermeister Max Brauer ihre Unterschriften unter einen Staatsvertrag, der die Gründung des Desy als eine selbstständige Stiftung bürgerlichen Rechts besiegelte. Heute gehört es als außeruniversitäres Forschungszentrum zur Helmholtz-Gemeinschaft, wird zu 90 Prozent vom Bund finanziert.

Aus Sicht von Jentschkes damaligem Assistenten Paul Söding war es ein kluger Zug, nicht auf Protonen-Beschleuniger zu setzen, die tendenziell kostspieliger sein konnten als Elektronen-Synchrotrons. „Beschleuniger wie jene in den USA und in Genf waren sehr potent und dazu geeignet, bis dahin unbekannte Elementarteilchen zu entdecken“, erläutert Söding. „Die Stärke unseres Elektronen-Beschleunigers lag darin, dass wir im Vergleich präzisere Messungen vornehmen und genauer untersuchen konnten, wie es etwa im Inneren eines Atomkerns aussieht.“

Die Konkurrenz in den USA wurde früher fertig

Die Konkurrenz von den Universitäten Harvard und MIT allerdings setzte wie erwähnt auch auf Elektronen – und wurde früher mit ihrem Beschleuniger fertig. Ihr Knowhow teilten die US-Forschenden aber. „Die Amerikaner haben uns selbstlos geholfen“, erzählt Paul Söding. In den USA durften Desy-Ingenieure und Physiker von Beschleunigerkonstrukteuren lernen – und in Hamburg habe zeitweise etwa ein Gastforscher vom MIT die Gruppe um Willibald Jentschke mit Rat und Tat unterstützt. „Wir hatten das Gefühl, mit Harvard und MIT an der Weltspitze zu arbeiten“, sagt Söding. Später mussten die Hamburger ihren US-amerikanischen Kollegen dann Trost spenden: Eine Explosion und ein heftiges Feuer zerstörten die Experimentier-Etage des Harvard-MIT-Elektronenbeschleunigers.

Auch vom CERN in Genf erhielten die Hamburger viele Unterstützung. So sei es Jentschke und seinem Team gelungen, zu einem Preis von gut 100 Millionen DM ein neues Forschungszentrum mit einem der leistungsfähigsten Elektronen-Synchrotrons auf die Beine zu stellen, so das Desy.

Hamburg-Bahrenfeld: Minister fuhr bis in den Synchrotron-Tunnel vor

Die offizielle Übergabe der Forschungsanlage an die Wissenschaft erfolgte am 12. November 1964. An diesem Tag fuhr der gehbehinderte Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Hans Lenz, bis in den Synchrotron-Tunnel vor, wo er von Jentschke begrüßt wurde. Um diese Zeit hatten in Bahrenfeld drei Experimentiergruppen ihre Arbeit aufgenommen; sechs weitere Gruppen waren mit der Einrichtung ihrer Apparaturen beschäftigt.

Zur offiziellen Übergabe der Forschungsanlage an die Wissenschaft am 12. November 1964 fuhr der gehbehinderte Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Hans Lenz, bis in den Synchrotron-Tunnel vor und wurde hier von Prof. Willibald Jentschke (im Bild rechts) begrüßt.
Zur offiziellen Übergabe der Forschungsanlage an die Wissenschaft am 12. November 1964 fuhr der gehbehinderte Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Hans Lenz, bis in den Synchrotron-Tunnel vor und wurde hier von Prof. Willibald Jentschke (im Bild rechts) begrüßt. © DESY

Heute erforschen Desy-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch Nanowerkstoffe, lebenswichtige Biomoleküle, die Beschaffenheit des Kosmos und vieles mehr. Damals ging es um Elementarteilchen. Erst ansatzweise in der Entstehung begriffen war das Standardmodell der Teilchenphysik, das die Grundbausteine unserer Welt beschreibt und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken.

Physik Hamburg: Beschleunigte Elektronen prallten auf Zielscheibe

In dem 1964 gestarteten „Ur-Beschleuniger“ wurden Elektronen synchron beschleunigt, um sie mit immer mehr Energie zu versehen. Damit das funktionierte, war Präzision gefordert: So mussten etwa die Magnete, welche die Elektronen auf ihrer Kreisbahn hielten, mit einer Genauigkeit von wenigen Zehntel Millimetern positioniert werden und auch so stehen bleiben.

Die beschleunigten Elektronen prallten auf eine „Zielscheibe“, etwa Flüssigwasserstoff bzw. Wasserstoffatomkerne. Bei hohen Energien sollten bei diesen Kollisionen – so die These – bisher dato unbekannte Teilchen entstehen.

Mehrere Meilensteine in der Forschung sind mit Desy verbunden

Tatsächlich schafften es Physiker weltweit in den folgenden Jahrzehnten, mithilfe von Teilchenbeschleunigern alle vorhergesagten Mitglieder des Standardmodells nachzuweisen und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Etliche neue Erkenntnisse und mehrere Meilensteine auf diesem Weg sind mit Desy verbunden.

Söding erzählt, das Elektronen-Synchrotron habe etwa geholfen, die kleinsten Bausteine der Materie, sogenannte Quarks, zu erforschen: „Von einem Elektron aus dem Beschleuniger getroffen, konnten sie aus dem Atomkern herausgeschleudert und in unseren Apparaturen beobachtet und untersucht werden.“

1979 gelang Hamburger Forschenden mit dem 2,3 Kilometer langen Ringbeschleuniger PETRA am Desy der Nachweis des Gluons, jenes „Klebeteilchens“, das den Atomkern zusammenhält. Zu den federführenden Forschenden gehörte Paul Söding, zu dieser Zeit leitender Wissenschaftler am Desy.

Nobelpreis für die Strukturbiologin Ada Yonath, die lange am Desy arbeitete

1990 ging mit HERA der größte Beschleuniger am Desy in Betrieb. Bei den Experimenten mit dieser 6,3 Kilometer langen Maschine entschlüsselten Hamburger Forscher die komplizierte Struktur des Protons. Dieses Wissen ging nicht nur in Lehrbücher ein, sondern bildet eine wichtige Grundlage für die Arbeiten mit dem 27 Kilometer langen Large Hadron Collider (LHC), dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt am CERN in Genf, der 2008 eröffnet wurde.

Im Jahr 2009 erhielt die israelische Forscherin Ada Yonath den Chemienobelpreis – sie hatte mit dem DORIS-Beschleuniger am Desy mehr als 20 Jahre lang Experimente zur Entschlüsselung des menschlichen Ribosoms durchgeführt, jene Partikel in unseren Zellen, an denen Proteine hergestellt werden.

Hamburg-Bahrenfeld: Desy baut Forschung mit Röntgenstrahlung aus

Der Aufbau des LHC in Genf markierte einen Wendepunkt für die Hamburger. Der erfolgreiche Teilchenbeschleuniger HERA wurde 2007 abgeschaltet, weil Deutschland nun verstärkt in die Forschung am CERN investierte. Die Zeit der nationalen Teilchenphysik-Projekte ging zu Ende.

Ein Zukunftskonzept lag am Desy schon vor. Bereits der 1964 gestartete „Ur-Beschleuniger“ hatte ein – damals eher lästiges – Abfallprodukt erzeugt: hoch intensives Röntgenlicht. Es zeigte sich, so das Desy, dass diese Strahlung besonders geeignet ist, die detaillierte Struktur von Festkörpern und Biomolekülen zu entschlüsseln. Von 2007 bis 2010 baute Desy die Anlage PETRA für den Betrieb mit hochbrillanter Röntgenstrahlung um.

Zudem wurde das Bahrenfelder Forschungszentrum zu einem zentralen Unterstützer der Experimente mit dem riesigen Röntgenlaser European XFEL; es entwickelte und baute den 1,7 Kilometer langen Beschleuniger für die unterirdisch zwischen Hamburg und Schleswig Holstein verlaufende Forschungsanlage.

Desy Hamburg: Mitbegründer Paul Söding erhält Bundesverdienstkreuz

Paul Söding, einst Jentschkes Assistent, arbeitete von 1982 bis 1991 als Forschungsdirektor am Desy, anschließend leitete er den zweiten Standort des Forschungszentrums in Zeuthen bei Berlin. Im September 2001 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Sein einstiger Mentor Willibald Jentschke, der von 1971 bis 1975 das CERN in Genf führte, starb 2002. „Er hat uns in den 1960er Jahren angetrieben mit seiner Begeisterung und Energie“, sagt Paul Söding. „Ohne Jentschke würde es das Desy nicht geben.“