Hamburg. Die große Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten aus diesen Jahren. Heute: ein Hamburger Wissenschaftskrimi.
Archäologe in Norddeutschland zu sein ist oft ein hartes und trockenes Brot. Reich bestückte Fürstengräber, Gold, Geschmeide sucht man hier in der Regel vergeblich. Tonscherben, Fibeln, Kämme, Holzbalken und Brandspuren sind es meist, die unter der Erde auf die Forscher warten. „Heureka!“ war denn auch bei allen stadthistorischen Ausgrabungen in Hamburg nicht zu hören.
Aber die Wissenschaftler des Archäologischen Museums Hamburg wie Prof. Rainer-Maria Weiss, Ada Dannenberg oder Kay-Peter Suchowa sehen sich ja auch nicht als Schatzsucher – sie ähneln eher Detektiven, die jedes kleinste Indiz sammeln, damit sich irgendwann ein schlüssiges Bild ergibt.
Auf der Suche nach Hamburgs Keimzelle – der legendären Hammaburg
Und so gab es 2006 auch keinen jubelnden Karsten Kablitz, der stolz verkündet hätte, endlich Hamburgs Keimzelle – die legendäre Hammaburg – entdeckt zu haben. Ganz im Gegenteil: Nach eineinhalb Jahren, in denen er mit seinem Team am Domplatz gegraben hatte, machte sich Enttäuschung breit. Die Burg müsse woanders gestanden haben, vielleicht etwas weiter östlich unter dem Pressehaus am Speersort.
Kablitz wusste noch nicht, dass die scheinbar enttäuschende Grabung doch die entscheidenden Puzzlestücke geliefert hatte. „Entdeckt“ wurde die Hammaburg aber nicht während der Grabung, sondern Jahre später am Schreibtisch. Und wie es dazu kam, ist schon fast ein wissenschaftlicher Krimi.
Dass es eine Hammaburg gegeben hat, war immer unstrittig, mehrere schriftliche Quellen erwähnen sie. „Hamma“ ist altsächsisch und kann „feuchte Wiese“ oder auch „befestigtes Ufer“ bedeuten. Das germanische Volk der Sachsen siedelte seit Jahrhunderten in Norddeutschland, als das fränkische Reich unter Karl dem Großen im späten 8. Jahrhundert das Gebiet eroberte. Es war ein jahrzehntelanger, erbitterter Krieg, der 804 seinen Abschluss fand. Um die Eroberung gegen die Dänen abzusichern, wurden mehrere Burgen angelegt, darunter auch die Hammaburg.
Es wurde großspurig behauptet, Karl der Große habe Hamburg gegründet
Karls Sohn Ludwig (der Fromme) entsandte 834 den Geistlichen Ansgar nach Hamburg, um in Skandinavien zu missionieren, was allerdings gründlich scheiterte. Nächster Fixpunkt in Hamburgs Geschichte ist der (schriftlich belegte) Wikingerüberfall im Jahr 845, bei dem die Burg zerstört und niedergebrannt worden sein soll.
Aus diesen Daten leiteten frühere Forschergenerationen nun einiges ab. So wurde großspurig behauptet, Karl der Große sei vor Ort gewesen, habe die Burg erbauen lassen und somit Hamburg gegründet. Deswegen ist auch seine Statue über dem Rathauseingang angebracht. Außerdem schloss man, dass die Burg um 810 erbaut und eben 845 zerstört wurde – und dass mit Ansgars Ankunft 834 eine Kirche in der Burg gebaut worden sein müsse. Diese scheinbar unverrückbaren Annahmen bereiteten nun Generationen von Archäologen gewaltiges Kopfzerbrechen, weil die Grabungsbefunde damit nicht immer so recht in Einklang zu bringen waren.
Gebuddelt worden ist oft am Domplatz. Hamburgs erster Landesarchäologe Reinhard Schindler nahm zwischen 1949 und 1956 umfangreiche Ausgrabungen auf dem schwierigen Gelände vor. Der 1804 abgerissene Dom und seine Vorgängerbauten, die danach errichtete und im Krieg durch Bomben zerstörte Gelehrtenschule Johanneum sowie diverse Spuren frühmittelalterlicher Grabenanlagen ließen Schindler seufzen, dass er es mit „einem Berg von Fragezeichen“ zu tun habe. Er entdeckte auch diverse Keramiken, die zum einen typisch sächsisch, zum anderen eindeutig slawisch waren.
Man ging von einer Doppelkreis-Anlage aus
Die slawischen Obodriten siedelten im 8. und 9. Jahrhundert im östlichen Schleswig-Holstein und waren Verbündete Karls des Großen gewesen. Durch die Datierung dieser Keramiken schloss Schindler, dass es eine sächsische Siedlung ohne Burganlage gegeben habe, die dann ab 804, also direkt nach Kriegsende, von den Obodriten genutzt wurde. Zwischen 811 und 834 (der Ankunft Ansgars) sei dann die Hammaburg entstanden.
Auch die erste Kirche Hamburgs glaubte Schindler entdeckt zu haben: Er war auf vier Pfosten gestoßen, die er zeitlich ins frühe 9. Jahrhundert einordnete. Diese Erkenntnisse hatten lange Bestand. Neuere Grabungen zwischen 1980 und 1987 legten weitere Teile der gefundenen Gräben frei. Man ging von einer Doppelkreis-Anlage aus, also einer Befestigung mit zwei Schutzwällen.
Diese wurde nun eindeutig in die sächsische Zeit interpretiert – es müsse also doch bereits eine Befestigung aus der Zeit vor der fränkischen Eroberung gegeben haben. Diese sei dann von den Slawen übernommen worden. Die Grundthese – dass die Hammaburg nach 811 von den Franken gebaut wurde – blieb aber weiter unangetastet.
Die slawischen Funde waren jünger als bisher gedacht
Grundlegend erschüttert wurden diese vermeintlichen Gewissheiten nicht bei einer neuerlichen Ausgrabung, sondern am Schreibtisch. Der Archäologe Ole Harck durchforstete Anfang des neuen Jahrtausends in mühsamer Arbeit alle dokumentierten Grabungsdetails und sichtete die Fundstücke. Bei der Datierung von Keramiken war die Forschung mittlerweile deutlich weiter als in den 1950er-Jahren.
Harck konnte in seiner 2002 veröffentlichten Arbeit nachweisen, dass die slawischen Funde eindeutig jünger waren als bisher gedacht. Die Befestigungsanlage wiederum sei ebenfalls jünger und in die Zeit um 900 einzuordnen – es konnte sich also unmöglich um die Hammaburg handeln! Auch die Pfosten, die Schindler in den 1950ern entdeckt hatte, erwiesen sich als viel jünger. Die Frage nach dem Standort von Hamburgs Keimzelle war plötzlich wieder offen.
Im Hamburger Abendblatt gab es ein Grabungstagebuch
Und so starteten 2005 erneut die Arbeiten auf dem Domplatz, diesmal unter der Leitung von Karsten Kablitz. Das öffentliche Interesse an der archäologischen Arbeit war so groß wie nie zuvor. Alle Hamburger Medien berichteten ständig, im Hamburger Abendblatt gab es über die ganzen eineinhalb Jahre ein Grabungstagebuch.
Viele Hamburger schauten regelmäßig vorbei, die Forscher boten immer wieder Besichtigungen an. Die Zuversicht, nun endlich eindeutige Beweise für die Hammaburg zu finden, war riesig – und wurde enttäuscht. „Das Ende einer hoffnungsvollen Suche“ war als Überschrift am 5. Dezember 2006 im Abendblatt zu lesen.
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Das „Heureka“ war wieder einmal ausgefallen. Doch Archäologen haben eben eine detektivische Ader. Und bei der Grabung wurde ja nicht nichts gefunden – neben Keramiken und Abfallgruben gab es nun weitere Details der Grabenanlagen. Außerdem war erstmals alles digital vermessen worden.
Hammaburg: Plötzlich ergab sich ein schlüssiges Bild
Prof. Rainer-Maria Weiss machte sich in den Folgejahren mit seinem Team an die Detailauswertung der Ergebnisse. Und langsam reifte eine These heran. Was wäre, wenn die „Doppelkreisanlage“ tatsächlich zwei verschiedene Bauwerke sind? Wenn es eine erste kleine Hammaburg aus sächsischer Zeit gibt, die dann in fränkischer Zeit erweitert wurde?
Plötzlich ergab sich ein schlüssiges Bild. Denn die neueste Grabenanlage, die um 900 datiert wurde, war dann die dritte und größte Hammaburg, nachdem die zweite ja 845 von den Wikingern zerstört worden war. Zumal es auch Indizien gab, dass diese zweite Burg um 850 eingeebnet wurde.
„Wir wollten sichergehen und nicht frühzeitig eine These aufstellen, die dann von den Experten zerpflückt worden wäre“, sagt Weiss. Also organisierte er still und heimlich einen Expertenkongress mit Wissenschaftlern aller Gattungen – und alle trugen die neuen Erkenntnisse mit.
Die Öffentlichkeit erfuhr die Nachricht 2014. „Sensation: Wissenschaftler entdecken die Hammaburg“, titelte das Abendblatt am 25. Januar. Seitdem herrscht endlich Gewissheit, wo die Erfolgsgeschichte namens Hamburg begann.