Hamburg. Pfiffe, Hupen, obszöne Sprüche – zahlreiche Hamburgerinnen werden auf diese Weise sexuell belästigt. Was sie alles erleben.
Es ist Sommer in Hamburg. Mit den höher kletternden Temperaturen steigt aber auch leider etwas anderes: die Zahl der ungefragten Bemerkungen, Rufe, Pfiffe, Gesten und aufdringlichen Blicke gegenüber Frauen.
Es ist eine Form der sexuellen Belästigung ohne direkten Körperkontakt, die als „Catcalling“ bezeichnet wird. Es kann ein langes, viel zu intensives Anschauen sein, das einen unangenehmen Schauer auslöst. Ein Kommentar, nach dem trotz sommerlicher Hitze schnell eine Jacke übergezogen wird. Ein Hupen, das den Gedanken hervorruft, diesen einen bestimmten Rock nicht mehr anzuziehen oder zumindest nicht mehr ohne Kopfhörer das Haus zu verlassen.
Catcalling in Hamburg: Junge Frauen berichten über sexuelle Belästigung
Solche Erfahrungen gehören zum Alltag vieler Menschen – und besonders zu dem von jungen Frauen. Das Erschreckende: Meist passiert diese Form der sexuellen Belästigung nicht im Geheimen, sondern vor den Augen vieler. Das Hamburger Abendblatt war deshalb am Jungfernstieg unterwegs und hat Passantinnen nach ihren Erfahrungen zum Thema Catcalling befragt.
Das traurige Ergebnis: Fast jede junge Frau, die zu diesem Thema angesprochen wurde, konnte, ohne zu zögern, Situationen dieser Art benennen:
- „Ich bin abends alleine an einem Parkplatz vorbeigelaufen, und mehrere Lastwagenfahrer haben da ihre Fenster runtergekurbelt und gehupt. Das war mir so unangenehm“, Hannah (alle Namen geändert), 21.
- „Ich wurde beim Inlineskaten erst letzte Woche aus einem Auto heraus angehupt“, Nele, 33.
- „Es ist ewig her, seit ich das letzte Mal unter einem Kleid keine Radlerhose anhatte. Es reicht ja ein Windstoß und schon bekommst du von drei Seiten Sprüche oder Pfiffe“, Lale, 27.
- „Richtig krass ist es bei Eingängen vor Parks oder am Hauptbahnhof. Wenn ich da sage, dass sie mich in Ruhe lassen sollen, nützt das nichts“, Nuri, 22.
- „Ich war abends mit einer Freundin in der Nähe der Reeperbahn unterwegs, als ein Auto mit einigen Jungs drin langsam an uns vorbeifuhr. Sie wollten, dass wir einsteigen. Als wir Nein sagten, beleidigten sie uns. Das ist ja aber nichts Neues mehr“, Anastasia, 23.
- „Was mir in letzter Zeit extrem aufgefallen ist, sind die Blicke. Dieses richtige Anstarren. Das finde ich am schlimmsten“, Isabelle, 23.
- „So richtig unsicher fühlt man sich, wenn man alleine unterwegs ist und dann solche Kommentare und oder Geräusche hört. Man weiß ja nie, was danach noch passiert. Das sind ja Fremde“, Sarah, 23.
- „Wenn man Kleider trägt, so wie jetzt im Sommer, ist es am heftigsten. Besonders in der Innenstadt oder auf der Reeperbahn“, Lina, 25.
Pfiffe, Hupen, obszöne Witze – Onlinebefragung zum Thema Catcalling
Auch eine nicht repräsentative Onlinebefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, an der knapp 4000 Personen, zu 85 Prozent Frauen, teilgenommen haben, zeigt: Catcalling ist kein Einzelfall. Mehr als 90 Prozent der Befragten gaben an, innerhalb der vergangenen drei Monate im öffentlichen Raum wegen ihres Aussehens bewertet worden zu sein.
Mehr als 60 Prozent hatten anzügliche Bemerkungen gehört, fast genauso viele wurden angehupt oder angeklingelt oder es wurde ihnen hinterher gepfiffen. 58 Prozent der Befragten hatten sexuelle Annäherungsversuche registriert und obszöne Witze gehört, knapp die Hälfte war in den vergangenen drei Monaten von Rufen aus fremden Fahrzeugen heraus betroffen gewesen. Mehr als 40 Prozent sind sexistisch beschimpft worden.
Die Hälfte der Teilnehmer gab außerdem an, sich generell ängstlicher zu fühlen und durch Catcalling ein Gefühl der Bloßstellung erlitten zu haben. Acht Prozent veränderten sogar ihren Kleidungsstil durch diese Erfahrungen.
Hauptbahnhof und Reeperbahn werden von den Befragten als unsicher empfunden
Weitere Folge: Knapp 40 Prozent der Betroffenen meiden bestimmte Routen oder Orte, um das Risiko, Catcalling zu erleben, zu verringern. Zwei Drittel fühlen sich unwohl, wenn sie nachts alleine unterwegs sind. Denn in den meisten Fälle passiert Catcalling an öffentlichen Plätzen wie Straßen oder Parks – oft abends und wenn die betroffene Person alleine unterwegs ist.
Die vom Abendblatt gefragten Hamburgerinnen nannten hier vor allem den Hauptbahnhof, den Kiez sowie Bereiche der Innenstadt und von St. Georg.
Sexuelle Belästigung – laut Polizei gibt es besonders viele Taten in Hamburg-Mitte
Daten der Hamburger Polizei zum Straftatstand sexuelle Belästigung, die im Gegenteil zu Catcalling eine körperliche Berührung voraussetzt, weisen in dieselbe Richtung: „Im Jahr 2022 wurden in Hamburg 590 sexuelle Belästigungen verzeichnet. 42,9 Prozent der Fälle (253 Taten) wurden im Bezirk Hamburg-Mitte registriert“, sagt Polizeisprecher Florian Abbenseth.
Die Stadtteile St. Pauli und St. Georg liegen dabei ganz vorn. Von den 253 erfassten Fällen der sexuellen Belästigung in Hamburg-Mitte wurden hier 158 Fälle, also mehr als die Hälfte, registriert.
Das große Problem beim Catcalling: Anders als zu körperlichen Übergriffen gibt es zu rein verbalen Attacken keine Daten. Diese Art der sexuellen Belästigung ist in den meisten Fällen nicht strafbar und wird daher strafrechtlich nicht verfolgt und entsprechend nicht registriert. Eine Tatsache, gegen die der Deutsche Juristinnenbund (djb) schon seit einigen Jahren kämpft.
Deutscher Juristinnenverbund will Catcalling zu Straftatbestand machen
„Catcalling ist ein sehr verbreitetes Phänomen, von dem vor allem Frauen negativ betroffen sind und das derzeit nicht strafbar ist. Eine strafbare sexuelle Belästigung (§ 184i StGB) setzt eine körperliche Berührung voraus“, sagt Dana Valentiner, Vorsitzende des djb Landesverbands Hamburg.
„Auch verbale, nicht körperliche Beeinträchtigungen können aber das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung betreffen, besonders wenn es sich um krass herabwürdigende, zum Sexualobjekt degradierende oder sexuell bedrängende Äußerungen oder Verhaltensweisen handelt.“
Der Deutsche Juristinnenbund halte daher eine Regelung in einem eigenen Straftatbestand oder als Ordnungswidrigkeit für denkbar, so Valentiner. In einem „Policy Paper“ stellt der djb deshalb Forderungen an die Politik: Es sollten mehr Studien zum Thema Catcalling in Auftrag gegeben sowie die verbale sexuelle Belästigung strafbar gemacht werden. Außerdem sollten auch andere Formen „aufgedrängter Sexualität“ in einem eigenen Straftatbestand oder als Ordnungswidrigkeit erfasst werden, so der djb.
Catcalling: Hamburger Gleichstellungsbehörde plant Kampagne gegen Alltagssexismus
Das Thema „Alltagssexismus“ wird auch von der Hamburger Behörde für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung aufgegriffen. So plane man bis Ende des Jahres eine hamburgweite Kampagne, mit deren Umsetzung eine Hamburger Agentur beauftragt wurde. Ziel sei es, dass „überkommende Rollenstereotype und Zuschreibungen“ hinterfragt und aufgebrochen werden.
Die Hamburger Linkspartei fordert schon länger eine Kampagne gegen sexualisierte Gewalt und hat in dieser Woche erneut die Wichtigkeit betont: „Jede Frau und jedes Mädchen hat ein Recht darauf, dass ihre Grenzen respektiert werden – egal ob in der Sauna, auf der Arbeit oder im privaten Raum. Wir müssen ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem das selbstverständlich ist und in dem Übergriffe nicht einfach als ‚typisch männliches Verhalten‘ weggelächelt werden“, sagt Cansu Özdemir, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion.
Dazu gehöre auch, Ansätze zu entwickeln, „die Männer in die Verantwortung nehmen und die in der Öffentlichkeit gegen Männlichkeitsvorstellungen wirken, die auf Abwertung, Sexismus und letztlich körperlicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen basieren“. Anlass für den Antrag waren Zahlen zu sexuellen Übergriffen in Hamburger Schwimmbädern, die als Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken veröffentlicht wurden.
Catcalling ist kein Kompliment, sondern ein „sexualisierter Übergriff“
Auch Nadine Primo, Autorin des Buches „Konsens ist sexy“, plädiert dafür, Catcalling nicht weiter zu verharmlosen – besonders vor dem Hintergrund, dass diese Art der Belästigung auch immer wieder unter dem Deckmantel „Kompliment“ gerechtfertigt werde.
„Catcalling ist kein Kompliment, weil Betroffenen ungefragt sexuelles Interesse, meist niveaulos kommuniziert, aufgedrückt wird und somit in erster Linie Belästigung gleichkommt. Von Fremden aufs Aussehen reduziert, also sexualisiert zu werden und dann auch noch mit ihrer Lust konfrontiert zu sein, hat etwas Grenzüberschreitendes, zumal es nicht einvernehmlich passiert“, so die Schriftstellerin.
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Laut Primo sei das ein „von der Gesellschaft meist tolerierter sexualisierter Übergriff“, der zum Ziel habe, „Frauen bloßzustellen und zu erniedrigen, indem sie zum Sexobjekt degradiert werden“.
Hamburger Selbstverteidigungstrainer rät: „Dem Täter den Kick der Macht verweigern“
Sie selbst erinnere sich gut an eine Zeit während ihres Studiums, in der sie täglich dieselbe Baustelle passieren und sich von den Arbeitern sexistische Sprüche anhören musste. „Irgendwann habe ich angefangen, die Musik auf meinen Ohren lauter zu machen und besonders aufdringliche Blicke mit einem Mittelfinger zu quittieren“, sagt die Berlinerin. Aber ist das wirklich die beste Reaktion?
Der Hamburger Selbstverteidigungstrainer Martin Vödisch hat da gemischte Gefühle. „Im Ernstfall könnte so was zu einer körperlichen Gegenreaktion führen“, sagt er. Es komme aber immer auf den Einzelfall an. Generell gebe es drei verschiedene Taktiken, die als Reaktion auf Catcalling gewählt werden können: ignorieren, Konfrontation beziehungsweise Grenzen setzen und Gegenreaktion.
„In den meisten Fällen funktioniert das Ignorieren gut – für viele fühlt sich aber psychisch total unbefriedigend an, das unkommentiert zu lassen“, so der Selbstverteidigungstrainer.
Catcalling und sexuelle Belästigung – Kursus an der Volkshochschule Hamburg
Deshalb sei eine weitere Möglichkeit, den Catcaller verbal – oder mit Gesten wie dem Mittelfinger – zu konfrontieren. „Hier besteht aber nun mal immer die Gefahr, dass die Situation eskaliert“, warnt Martin Vödisch. Gut funktioniere in einigen Fällen, eine für den Gegenüber unerwartete Reaktion zu zeigen – „zum Beispiel einen Spruch zurückschießen“, so der Experte.
Das Wichtige bei allen Reaktionen sei laut Vödisch immer, dem Täter „den Kick der Macht und die Kontrolle zu verweigern“. Das möchte der Selbstverteidigungstrainer den Betroffenen und Interessierten auch in seinem Kurs „Creeps und Catcalling – Selbstbehauptung gegen sexistische Gewalt“ an der Volkshochschule in Hamburg-Barmbek näherbringen. Die Veranstaltung inklusive praktischer Übungen findet am 30. September statt, die Teilnahme kostet 23 Euro.