Hamburg. 38-Jähriger wurde im Schlaf niedergestochen. Doch der Täter präsentierte zunächst ein Alibi. Wie er doch noch enttarnt wurde.

Der Mann wird im Schlaf überrascht. Sein Mörder schleicht sich an ihn an, sticht auf das arglose Opfer ein. Mit so brutaler Wucht, dass das Messer abbricht, so heftig, dass der 38-Jährige schwerste Verletzungen erleidet. Wenige Minuten später stirbt der Mann. Der Täter hat ihn erneut angegriffen, mit einem zweiten Messer, wieder mit außergewöhnlicher Brutalität.

Elf Jahre sind nach diesem Verbrechen vom 3. auf den 4. Oktober 2003 vergangen, bis ein Mann angeklagt und vor Gericht gestellt werden konnte. „Da war das schon fast ein Cold Case“, sagt Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel. „Auch für einen Rechtsmediziner mit jahrzehntelanger Erfahrung war die Heftigkeit der Tatausführung ungewöhnlich“, meint Püschel. „Fälle mit einer solchen Brutalität erlebt man ganz selten.“

Mord im Hinterhof in Hamburg: Das Opfer hatte eine heimliche Beziehung

Sehr schnell nach dieser Bluttat gab es einen Verdächtigen: den Ehemann jener Frau, mit der das Opfer Ali R. (Name geändert) eine heimliche Liebesbeziehung gehabt hatte. Es lag nahe, dass der gehörnte Ehemann der Frau, ein 35-jähriger Hamburger, von dem Verhältnis wusste und sich an seinem Nebenbuhler hatte rächen wollen.

Doch der Verdächtige präsentierte ein Alibi. Drei seiner Arbeitskollegen bezeugten, dass Mehmet P. (Name geändert) in jener Nacht mit ihnen auf einem Kneipenbummel gewesen sei. Erst als elf Jahre später das Alibi platzte, wurde der Verdächtige verhaftet, angeklagt und schließlich vor Gericht gestellt. Vorangegangen waren aufwendige Ermittlungen, unter anderem die präzise Auswertung der DNA-Spuren. Schließlich wurde der Fall bei der Fahndungssendung „Aktenzeichen XY... ungelöst“ aufgegriffen.

Und plötzlich platzt das Alibi – der Verdächtige ist doch der Mörder

„Und plötzlich meldeten sich unabhängig voneinander Zeugen, deren Aussagen darauf hindeuteten, dass der zunächst tatverdächtige Ehemann, der ja angeblich ein Alibi hatte, doch der Mörder sei“, erklärt Podcast-Gast Joachim Bülter, ehemals Vorsitzender Richter am Landgericht. Bei Bülters Kammer wurde der Fall gegen Mehmet P. schließlich verhandelt.

Die Staatsanwaltschaft warf dem 35-jährigen Angeklagten Mord aus Heimtücke vor. „Heimtücke liegt dann vor, wenn das Opfer arg- und wehrlos ist und sich deshalb keines Angriffs auf Leib und Leben versieht“, erklärt Bülter. Hier, im Fall des Getöteten, stellte die Rechtsmedizin insgesamt 28 Stich- und Schnittverletzungen fest.

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„Ein Stich ging 14 Zentimeter tief in die Brust und verletzte Herz und Lunge so schwer, dass allein das schon, wegen der erheblichen Blutungen nach innen, geeignet war, den Tod herbeizuführen“, erklärt Rechtsmediziner Püschel. „Außerdem soll Mehmet P. ein weiteres Messer genommen und versucht haben, dem Opfer mit mehreren Messerschnitten den Kopf vom Nacken her abzutrennen.“

Denn nach der ersten Messerattacke schaffte es der Angegriffene noch, sich – kurz zuvor erst aufgewacht – blutend und schreiend vor Schmerzen in den Hinterhof der Wohnung an der Bremer Straße zu schleppen. Doch dort stach der Täter mit einem Küchenmesser erneut zu.

Mord im Hinterhof: Die Aussage eines Verstorbenen bringt die Wende

„Zu Beginn der Hauptverhandlung am 17. März 2015 hat der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat pauschal bestritten und im Übrigen geschwiegen“, erinnert sich Richter Bülter. „Doch später, am 34. Verhandlungstag, erfolgte ein Teilgeständnis.“

Hintergrund war, dass die Aussage eines Hamburgers sozusagen „posthum“ eine besondere Bedeutung gewann: Es war ein Mann, der seinerzeit offenbar Mehmet P. bei dessen Rachefeldzug in die Wohnung des späteren Opfers begleitet hatte – und wohl miterlebt hatte, wie Ali R. zu Tode kam.

Ein Komplize hatte sich seiner Schwester und einem Freund anvertraut

Was lange niemand wusste: Dieser Komplize, der drei Jahre nach dem Mord bei einem Badeunfall in der Türkei ums Leben kam, hatte sich lange vorher bereits zwei Menschen aus seinem Umfeld anvertraut: seiner Schwester und einem Freund.

Deren Aussagen wurden schließlich im Prozess eingeführt. Und durch sie wurde der Angeklagte erheblich belastet. Denn aus den Aussagen der Zeugen wurde deutlich, dass Mehmet P. den noch schlafenden Nebenbuhler angegriffen und brutal mit dem Messer zugestoßen hat.

Hamburger Rechtsmediziner: Die Stiche wurden mit großer Wucht ausgeführt

„Wenn man diese Schilderung, was die Tat betrifft, mit den Verletzungen vergleicht, die das Opfer davongetragen hat, dann passt das gut zusammen“, erläutert Püschel.

„Es war ja eine Vielzahl von Stichen und Schnitten, überwiegend mit großer Wucht ausgeführt, an unterschiedlichen Stellen des Körpers. Das spricht einerseits für ein dynamisches Geschehen, bei dem sich Täter und Opfer bewegen, andererseits für heftige Wut und Hass, mit denen die Stiche und Schnitte ausgeführt wurden. Das erklärt dann auch die Tiefe einzelner Wunden.“

Nachdem der Angeklagte so massiv durch Zeugenaussagen belastet wurde, legte er nunmehr ein Geständnis ab. „Nach dem Motto: Jetzt wird es sehr eng“, sagt Mittelacher. „Jetzt müssen wir die Flucht nach vorn antreten.“ Nun hieß es in der Einlassung des Angeklagten unter anderem, es habe ihn in der Wohnung seines Nebenbuhlers eine „wahnsinnige Wut“ gepackt. Er sei „wie Eis festgefroren“ gewesen. Und er wisse nicht, was in diesem Moment mit ihm passiert sei.

Prozess Hamburg: Gericht verhängte lebenslange Haft wegen Mordes

„Wenn ich diese Formulierungen so höre“, überlegt Mittelacher, „dann wollte er ja wohl damit ausdrücken, er habe vollkommen neben sich gestanden. Das würde dann ja, wenn diese Einlassung überzeugend wäre, bedeuten, dass Mehmet P. nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen sei. Dann hätten wir also rechtlich unter Umständen einen Totschlag im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit.“

Doch das Gericht verhängte lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. „Zu diesem Urteil kamen wir“, sagt Richter Bülter, „weil wir die Angaben des Angeklagten in maßgeblichen Punkten als nicht glaubhaft erachtet haben. Wir kamen zu dem Schluss, dass er in hohem Maße berechnend und taktierend vorgegangen ist.“

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