Hamburg. Das Ehepaar ließ seine sechs Kinder völlig verwahrlosen. Das fiel erst auf, als die zweieinhalb Jahre alte Michelle starb.

Es war der 1. Juli 2004, als die vier Jahre alte Laura zu ihrer Mutter lief und sinngemäß sagte: „Michelle schläft ganz tief und hat die Augen auf. Ich glaube, sie ist tot.“

So beginnt Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel die Schilderung des bedrückenden Falls um das Leid mehrerer Geschwister aus Hamburg. „Wäre die vierjährige Laura an jenem Vormittag nicht mit dieser Schreckensbotschaft gekommen — die Mutter Nicole G. hätte den Tod ihrer jüngeren, zweieinhalb Jahre alten Tochter Michelle vielleicht erst Stunden später bemerkt.“

True Crime: Eltern sperrten die Kinder oft stundenlang weg

„Ja, man möchte das gar nicht glauben“, meint Püschel. „Die Mutter hat ihre sechs Kinder regelmäßig nachts in den Kinderzimmern eingesperrt und die Türen verriegelt. So hielt sie es offenbar auch, wenn eines ihrer Kinder erkennbar krank war. Die Eltern guckten viele, sehr viele Stunden lang nicht nach den Kleinen. Aber man muss sich doch kümmern!“

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Das haben Nicole G., 28 Jahre alt, und ihr 34 Jahre alter Partner allerdings schon lange nicht mehr getan. Das Paar hat innerhalb von gut fünf Jahren sechs Kinder bekommen, also etwa alle zehn Monate eines. Die Familie aus Hamburg-Lohbrügge lebte zu acht in einer Dreizimmerwohnung.

Als es zur Katastrophe kam, war der älteste Sohn knapp sechs Jahre alt, die jüngste Tochter sechs Monate. Die Kinder wurden vernachlässigt. Mutter und Vater beschäftigten sich so gut wie gar nicht mit ihnen. Auch nicht, als Michelle eindeutig einen Infekt hatte und an Fieber litt.

Das zweieinhalb Jahre alte Mädchen starb an Multiorganversagen

„Hat die Mutter sie vergessen?“, fragt Mittelacher. „Hat sie sich keine Sorgen gemacht?“ „Am Ende war es tatsächlich so“, schildert Püschel: „Erst als die vierjährige Laura Alarm geschlagen hatte, machte sich die Mutter die Mühe, selber mal nachzuschauen.“ Mittelacher sagt: „Die Tochter war in aller Stille gestorben, alleingelassen.“

„Die herbeigerufenen Rettungskräfte fanden ein erkennbar vernachlässigtes Mädchen vor. Michelle war unterernährt und litt unter Dekubitus, also schmerzhaften Durchliegestellen“, berichtet der Rechtsmediziner. „Daraus musste geschlossen werden, dass dieses Kind zuletzt fast ausschließlich gelegen hat.“

Gestorben ist Michelle wegen eines Multiorganversagens, insbesondere mit einem sehr schweren Hirnödem. Beides waren Folgen eines Atemwegsinfektes mit eitriger Mandelentzündung.

Furchtbare Zustände herrschten in der "Familie"

Mit dem Tod des kleinen Kindes begannen Ermittlungen. Furchtbare Zustände in der Familie wurden bekannt. Die anderen Kinder wurden umgehend in staatliche Obhut genommen und kamen ins Heim. Es stellte sich heraus, dass alle Söhne und Töchter des Paares bis auf das jüngste Kind schwerste Entwicklungsrückstände aufwiesen und teilweise nicht einmal das Nötigste an Fürsorge erhalten hatten.

Sie kannten keine Zahnbürsten; und der Älteste, fast sechs Jahre alte Sohn, konnte weder sprechen noch Treppen steigen. Im Prozess gegen die Eltern der Kinder wurden Nicole G. und ihr Lebensgefährte wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorgepflicht angeklagt.

Neben dem Vorwurf, ihre kranke Tochter Michelle nicht zum Arzt gebracht zu haben, sodass das Mädchen am 1. Juli 2004 starb, hieß es in der Anklage auch noch, die Eltern hätten in ihrer von Schimmel befallenen Wohnung die Kinder bis zu 24 Stunden am Stück allein gelassen. Die Türklinken seien abgebaut, die Mädchen und Jungen oft eingesperrt gewesen.

Im Prozess war die Mutter mit dem siebten Kind schwanger

„Im Prozess war die Mutter mit dem siebten Kind schwanger“, erinnert sich Mittelacher. „Was sie aber zuerst verheimlichen wollte. Erst später erzählten die Eltern davon. Allerdings gaben sowohl die Mutter als auch der Vater zu, Michelle und die Geschwister in den verdreckten Kinderzimmern teilweise stundenlang eingesperrt zu haben“, sagt die Gerichtsreporterin.

„Die Mutter sagte: ,Das ist mir einfach alles über den Kopf gewachsen.‘ Und der Vater räumte ein: ,Wir haben vieles verkehrt gemacht.‘ Dabei stand die Familie damals unter Betreuung des Jugendamtes. Aber die Mutter hat die Damen vom Jugendamt abgewimmelt. Wenn die Sozialarbeiterinnen zu Besuch kamen, behauptete die Mutter, ihre Kinder schliefen, und es gehe ihnen gut. „Dabei hätten sich die Sozialarbeiterinnen ein klares Bild vom Zustand der Kinder verschaffen sollen“, protestiert Püschel. „Sie hätten mal in die Zimmer gucken sollen!“ „Ja, so sehen wir das“, stimmt Mittelacher zu. „Aber die Sozialarbeiterinnen haben sich täuschen lassen.“

True Crime: Die Eltern wurden verurteilt, weil sie ihr Kind sterben ließen

Am Ende des Prozesses sind beide Eltern vom Gericht zu je drei Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorgepflicht verurteilt worden. „Sie haben Ihre Pflichten in einem erschreckenden Ausmaß und Umfang verletzt“, sagte der Richter.

Die Kinder hätten in Zimmern hausen müssen, die „in unbewohnbarem und menschenunwürdigem Zustand waren“. Und nach Überzeugung der Richter hatten die Eltern vor Michelles Tod mindestens 24 Stunden nicht nach ihrer kranken Tochter geschaut. „Die Mutter hatte Michelle vergessen.“