Hamburg. Zu teuer, wenig Nutzen, fast nur Sozialarbeit? Warum die Entscheidung der Krankenkassen auch Karl Lauterbach überraschen dürfte.
Es ist eine politisch brisante Entscheidung, die auch für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) überraschend kommen dürfte: Die in Hamburg führenden Krankenkassen streichen dem „Vorzeigeprojekt“ Gesundheitskiosk in Billstedt die Finanzierung. Die Techniker Krankenkasse, Barmer und DAK sehen in der Einrichtung keinen Sinn, weil sie Beratungsleistungen anbiete, die im Wesentlichen Sozialarbeit sei. Und die zu finanzieren, widerspreche nicht nur dem Gedanken des Gesundheitskiosk, sondern sei den gesetzlichen Krankenkassen von ihrer Aufsicht verboten, dem Bundesamt für soziale Sicherung (früher Bundesversicherungsamt). Dafür dürfen sie keine Beitragsgelder verwenden.
Zudem habe der Gesundheitskiosk Doppelstrukturen geschaffen und seine Ziele verfehlt. So biete er kostspielige Beratungen, die an anderen Orten bereits durchgeführt werden. Man dürfe die Beiträge der Krankenversicherten nur wirtschaftlich und medizinisch sinnvoll einsetzen. Die Beratungen im Kiosk stünden „in keinem Verhältnis zu der hohen finanziellen Aufwendung der Krankenkassen“, heißt es. Deshalb lasse man den Vertrag zum 31. Dezember dieses Jahres auslaufen.
Für den Gesundheitskiosk werden dem Vernehmen nach rund eine Million Euro pro Jahr aufgewendet. Ein Sprecher des Gesundheitskiosk äußerte sich in einer ersten Reaktion „erschüttert“. Ob das das Aus bedeutet, ist noch unklar.
Die AOK Rheinland/Hamburg will hingegen den Gesundheitskiosk weiter unterstützen. Eine Sprecherin sagte dem Abendblatt, das finanzielle Engagement werde fortgesetzt. Die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann, die früher unter anderem niedersächsische Gesundheitsministerin war, sagte nach Agenturberichten: „Wir halten die Idee und den Ansatz der Gesundheitskioske als niedrigschwellige Beratungsangebote in sozialen Brennpunkten für sehr sinnvoll. Jeder Mensch sollte unabhängig von seinem sozialen Status die gleichen Gesundheitschancen haben.“
Gesundheitskiosk Billstedt: Krankenkassen streichen das Geld
Der Gesundheitskiosk ist vor fünf Jahren von Krankenkassen und Ärzten vor Ort eingerichtet worden. Die AOK Rheinland/Hamburg war federführend. Erst am 31. August hatte sich Gesundheitsminister Lauterbach davon überzeugt, dass die Billstedter Institution zum Vorbild für das ganze Land tauge. Die Ampel-Koalition in Berlin hat sich zum Ziel gesetzt, überall in Deutschland Gesundheitskioske nach Hamburger Blaupause einzurichten, insgesamt 1000.
Hierbei geht es um sozial benachteiligte Gegenden, in denen wie in Billstedt/Horn der Anteil von Migranten und Leistungsbeziehern hoch und der an Arztpraxen niedrig ist. Lauterbach sagte, die Kosten sollten die gesetzlichen Krankenkassen zu 74,5 Prozent übernehmen, die privaten zu 5,5 Prozent und die Kommunen zu 20 Prozent. Der AOK Bundesverband forderte 50 Prozent von den Kommunen.
Gesunheitskiosk in Hamburg – Dr. Dirk Heinrich kritisiert Lauterbach
Auch der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) hatte die Einrichtung von Gesundheitskiosken zur Nachahmung empfohlen – allerdings weitere Überprüfung der Arbeit und der Ziele angemahnt. Nach Angaben der Krankenkassen hat der Gesundheitskiosk in Billstedt das so interpretiert, als habe der GBA der Einrichtung den Ritterschlag erteilt. Der GBA aus Ärzten, Krankenkassen und Experten entscheidet über Behandlungen und legt fest, was überhaupt mit den Kassen abgerechnet werden darf.
Dr. Dirk Heinrich vom Ärztenetz Billstedt/Horn (Mitgründer und Gesellschafter des Gesundheitskiosk) sieht die Verantwortung für das drohende Aus bei Gesundheitsminister Lauterbach. Seine „chaotische“ Politik habe ein neues „Opfer“. Weil Lauterbach ein Spargesetz für die Krankenkassen auf den Weg gebracht habe, müssten die überall Kosten sparen. Heinrich sagte: „Lauterbach zerstört mit seiner erratischen und inkonsistenten Politik die gute Versorgung ausgerechnet in sozialen Brennpunkten.“ Der Kiosk habe die Versorgung nachweislich verbessert, so Heinrich, der damit den Krankenkassen in ihrer Einschätzung widersprach.
Gesunheitskiosk in Hamburg von Studie "geadelt"
In der Corona-Hochphase haben die am Gesundheitskiosk engagierten Ärzte dafür gesorgt, dass eine umfassende und zielgruppengerechte Impfaufklärung betrieben wird – und dass man immer wieder leicht zugängliche Impfangebote in mehreren Sprachen macht.
Der Gesundheitskiosk ist auch von einer wissenschaftlichen Studie vermeintlich „geadelt“ worden, die das Hamburg Center for Health Economics (HCHE) durchgeführt hat. Prof. Jonas Schreyögg und Prof. Eva-Maria Wild hatten herausgefunden, dass eine Beratung à la Billstedt Kosten im Gesundheitswesen senken könne, zum Beispiel, was weniger Arztbesuche und geringere Ausgaben für Arzneimittel betreffe. Auch die Zahl der Krankenhausbehandlungen konnte offenbar gesenkt werden. Im Kiosk würden die Patienten besser aufgeklärt und versorgt sowie die Ärzte entlastet. Das Wissen um die „richtige“ Versorgung bei medizinischen Problemen wachse. Und so nähmen die Patienten nicht Fachärzte, die Notaufnahme oder Krankenhäuser in Anspruch, die oft nicht zuständig seien.
Krankenkassen: Gesundheitskiosk hat Ziele nicht erreicht
In der Studie heißt es: „Sozial schwache Stadtteile haben oft weniger ambulante Versorgungsangebote, welche sich zudem häufig nicht ausreichend an den Bedürfnissen sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen orientieren. Die Folgen sind zum einen stark beanspruchte Notaufnahmen, zum anderen eine Unter- und Fehlversorgung der Menschen in diesen Stadtteilen.“
Hier widersprechen die Krankenkassen: Die Auswertung der Evaluation habe ergeben, dass die Ziele eben nicht erreicht worden seien. Die Gesundheitskompetenz der „Kunden“ sei nicht gesteigert worden.
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Vier von zehn Beratungen im Gesundheitskiosk haben sich um Übergewicht gedreht, fand das HCHE heraus. Fast vier von fünf Nutzern der Beratungen und Kurse sind Frauen im Durchschnittsalter von 59 (Beratung) und 65 Jahren (Kurse). Nur etwa jeder Zehnte (11 Prozent), der zur Beratung kommt, arbeitet Vollzeit. Die anderen Kunden sind in Rente (54 Prozent), arbeitslos (15 Prozent) oder generell nicht erwerbstätig (10 Prozent), ergab die Untersuchung.
Gesundheitskiosk Hamburg: Krankenkassen streichen das Geld
„Die Beratung ist Sozialarbeit“, sagen deshalb die Kritiker, die seit Einführung des Angebots argwöhnisch auf die Finanzierung schauen. Zunächst war der Kiosk vom Innovationsfonds gefördert worden. Nach Abendblatt-Informationen hat es von Anfang an unter den Krankenkassenvertretern Bedenken gegeben, dass in Billstedt ein Vorzeigeprojekt mit reichlich Mitteln und großen Anstrengungen errichtet werde, das sich als bundesweites „Modell von der Stange“ aber nicht rech-ne.
Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) soll bereits von den Krankenkassen von deren Weigerung erfahren haben, den Gesundheitskiosk weiter zu finanzieren. Die Stadt Hamburg wird wenig geneigt sein wird, zusätzliches Geld in das umstrittene Projekt zu stecken, wie die aktuellen Pläne Lauterbachs das vorsehen. Beim Termin mit dem Minister und Parteigenossen Ende August fehlte Leonhard.