Hamburg. Die Bande soll insgesamt 290.000 Euro erbeutet haben, auch bei Rentnern in Hamburg. 69 Verhandlungstage bis Dezember.
Ein letzter wehmütiger Blick, ein letzter Handkuss für eine tränenüberströmte Frau im Zuschauerraum, dann führen Justizbeamte Marcin K., genannt „Lolli“, aus dem Gerichtssaal in die Untersuchungshaftanstalt Hamburg ab. Dort ist vorläufig Endstation für den Mann. Seit Mittwoch verhandelt das Landgericht gegen den mutmaßlichen Drahtzieher einer internationalen Enkeltrickbetrüger-Bande. 43 Taten werden dem 29-Jährigen zur Last gelegt. Allein die Anklageverlesung dauert fast 90 Minuten.
Im Zusammenhang mit Enkeltrick-Betrügereien sind in den vergangenen Jahren viele Verdächtige festgenommen worden. Meist sind es die kleinen Fische, die „Logistiker“ der mittleren oder die „Abholer“ der untersten Hierarchie-Ebene. Marcin K. hingegen gilt als einer der wichtigen Hintermänner der perfiden Betrugsmasche. Am Telefon soll er gutgläubige Rentner wieder und wieder um ihr Erspartes gebracht haben. Obwohl Marcin K., so die Anklage, nur in 16 der 43 angeklagten Fälle erfolgreich war, sollen er und seine Komplizen ihren betagten Opfern in Hamburg und anderen Städten rund 290.000 Euro abgeknöpft haben.
Marcin K. in Budapest gefasst
Marcin K. – Vollbart, Halbglatze, schicker Anzug – ist der Sohn von Arkadiusz L., Spitzname „Hoss“. Als Erfinder des hinterlistigen Enkeltricks hatte es der Patron eines weit verzweigten, von Polen aus in ganz Europa operierenden Roma-Clans zu zweifelhafter Berühmtheit gebracht. Mitte 2014 war er bei einer groß angelegten Razzia verhaftet worden. Sein Sohn Marcin hingegen hatte sich vor der Verhaftungswelle abgesetzt. Erst im Juli 2016 nahmen ihn Polizisten in Budapest fest. Zuletzt war er mit drei internationalen Haftbefehlen gesucht worden.
Die Staatsanwaltschaft wirft Marcin K. banden- und gewerbsmäßigen Betrug vor – schamlos soll er die Hilfsbereitschaft älterer Menschen ausgenutzt haben. Als sogenannter Keiler soll er vor allem die Telefon-Akquise für die Bande übernommen haben. Dazu soll er systematisch Telefonbücher nach Namen wie „Gerlinde“ oder „Isolde“ durchforstet haben, die üblicherweise nur noch ältere Menschen tragen. Dann griff der fließend und akzentfrei Deutsch sprechende Mann zum Hörer. Die erste Frage lautete meist: „Rate mal, wer dran ist?“
Ein Leben in Protz und Prunk
Nannten die älteren Herrschaften darauf den Namen eines Bekannten oder Verwandten, bediente er sich derer Identität und täuschte eine finanzielle Notlage vor. Leihweise benötige er dringend Geld, beispielsweise für ein Auto oder den Kauf einer Eigentumswohnung, ließ er seine Opfer glauben. Bissen die älteren Damen und Herren an, schickte er sie zur Bank. Und wenn nicht genug Geld auf dem Konto lag, durfte es auch schon mal Geschmeide sein. Ein vom „Keiler“ beauftragter „Logistiker“ lotste die mit einer eigenen Legende ausstaffierten „Abholer“ dann zu einem Treffpunkt mit den Opfern. Danach brachte ein Kurier die Beute nach Polen, wo die kriminelle Großfamilie auf Kosten der abgezockten Rentner ein Leben in Protz und Prunk führte. Bandenboss „Hoss“ schmiss Partys in Schlössern, ließ Gäste in Hubschraubern einfliegen, sammelte Luxusautos. Bis jetzt ist der Clan-Pate aber nicht verurteilt worden: Mehrere Prozesse gegen ihn platzten – inzwischen ist „Hoss“ untergetaucht.
Frau aus Lokstedt verlor 100.000 Euro
Die Schicksale ihrer betagten Opfer waren den Tätern egal. Maria F. (85) aus Eimsbüttel verlor 3500 Euro an die Bande, am Telefon soll sich Marcin K. als ihr Schwiegersohn Bernd ausgegeben haben. Die alte Dame zahlte. Trotzdem versuchten die Betrüger, noch mehr Geld abzupressen. Doch die Aufregung war Maria F. zu viel: Sie erlitt einen Herzinfarkt und lag drei Wochen im Krankenhaus.
Gerda H. (89), die Geld angespart hatte, um ihren kranken Sohn zu unterstützen, war sogar 42.000 Euro los. Ursula M. (85) aus Lokstedt brachten die Kriminellen sogar um 100.000 Euro. Und Ilse H. (87), die 10.000 Euro für ihre Beerdigung zur Seite gelegt hatte, verlor ihr Erspartes nur deshalb nicht, weil ein Bankmitarbeiter Verdacht geschöpft und die Polizei eingeschaltet hatte.
69 Verhandlungstage mit Dutzenden Zeugen
Überhaupt scheiterten die meisten Coups, weil die Opfer sich bei ihren „echten Angehörigen“ rückversichert hatten oder Bankangestellte misstrauisch geworden waren. Manchmal drehten die Geschädigten den Spieß sogar um: Erika B. (85) aus Alsterdorf etwa ging nur zum Schein auf die Forderung der Betrüger ein. Wie mit dem „Keiler“ besprochen, ging sie zur Bank, um Goldbarren im Wert von 65.000 Euro abzuholen. Alles nur Show: Tatsächlich wurden unter Beobachtung der Polizei Metallplatten in die Tasche gelegt. Die Falle schnappte zu, als Abholer Martin K. zum Übergabeort kam – Festnahme.
Bereits im Juli 2015 waren vier Mitglieder der Enkeltrick-Bande in Hamburg zu Haftstrafen zwischen zwei Jahren und vier Monaten sowie fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Für den Prozess gegen Marcin K. sind bis zum 21. Dezember 69 Verhandlungstage mit Dutzenden Zeugen anberaumt worden, jede Position wurde doppelt besetzt, um zu verhindern, dass der Prozess platzt. Dass in der Verhandlung harte Saiten aufgezogen werden, deutete sich schon an: Nach Anklageverlesung wandte sich die Verteidigung mit einer Besetzungsrüge an das Gericht – ein klassisches Manöver in Hinblick auf eine Revision.
Unterdessen laufen gegen Marcin K. weitere Betrugsverfahren in der Schweiz, in Österreich und in Luxemburg. In einem „Deal“ mit der Hamburger Justiz würde der Angeklagte wohl nur zu gern auch die Strafen in den anderen Ländern abgelten – daraus wird aber nichts. Eine derartige Gesamtlösung liege außerhalb der Kompetenz seiner Kammer, sagte der Vorsitzende Richter Bernd Steinmetz.