Wie lassen sich Sex-Appeal und Sicherheit des Amüsierviertels rund um die Reeperbahn wieder in Einklang bringen?
Freitagabend, kurz vor acht. St. Pauli bringt sich auf Betriebstemperatur. Vor der Davidwache umringt eine Touristengruppe aus Schwaben eine Frau in rotem Umhang mit roter Flügelkappe und gelbem Rock. „Das waren früher die ,Schandfarben‘“, sagt Führerin „Rahab“, im wirklichen Leben Schauspielerin. Auf der Historischen Hurentour gibt sie den Gästen einen Einblick in Geschichte und Gegenwart des berühmtesten Amüsierviertels der Welt. „Gleich ziehen gegenüber an der Davidstraße die Mädchen auf“, kündigt sie an. Wie auf Kommando überquert um Punkt acht tatsächlich ein Pulk von jungen Frauen die Straße und reiht sich an der Davidstraße auf, alle warm eingepackt in bunte Jacken und dicke Moonboots. Ihre Schicht dauert bis in die frühen Morgenstunden.
Der Kiez war immer schon ein Amüsierviertel
Der beste Platz ist direkt an der Ecke zur Reeperbahn, erklärt Rahab. Wenn das Mädchen, das dort steht, einen Kunden gekobert hat, darf die nächste aufrücken. Kehrt das erste Mädchen zurück, darf es seinen Platz wieder einnehmen, und alle anderen rücken wieder ins Glied.
Jetzt wird’s eng: Schon drängt sich eine zweite Besuchergruppe vor die Davidwache, angeführt von einem Mann in blinkender Strassjacke mit pinkfarbener Punkfrisur: Sven Florijan, „der Kugelblitz von St. Pauli“ aus dem Imperium von Olivia Jones. Die Hurentour zieht weiter Richtung Herbertstraße. Beim nächsten Halt informiert Rahab über die Sex-Praktiken, die dort angeboten werden, und über ein paar Fachbegriffe. Na, was bedeutet „Natursekt“? In der Fetischszene werden damit Sexspielchen mit Urin bezeichnet. Die Schwaben staunen schaudernd.
Ausgedacht hat sich die Hurentour Gerritje Deterding, die seit 1985 als Gästeführerin auf dem Kiez unterwegs ist und auch einige Jahre Geschäftsführerin der Interessengemeinschaft St. Pauli war. „Vor 15 Jahren war der Kiez noch nicht so gefragt wie heute“, sagt sie. Mit der Historischen Hurentour war sie 2004 eine Pionierin. Noch nie hatte jemand versucht, dem Normalbürger Einblicke in St. Paulis ältestes Kerngeschäft zu geben: die Prostitution. „Der Kiez war immer schon Amüsierviertel, Touristen sind immer mit einem gewissen Kribbeln hergekommen“, sagt sie. „Und der Kiez muss diesen Spagat hinbekommen: Er soll anrüchig, aber auch sicher sein.“
Genau diese Wunschkombination hat durch die Vorfälle in der Silvesternacht auf der Großen Freiheit einen Knacks bekommen, der dem Kiez schwer zu schaffen macht. Frauen sind nicht immer und für alle verfügbar. Das wusste schon John Lennon, der auf dem Beatles-Platz geehrt wird und in dem Song „Woman Is the Nigger of the World“ 1972 noch nicht politisch korrekt, aber eindeutig Position bezog: „We make her paint her face and dance / … Woman is the slave to the slaves / … Think about it, do something about it ...“
Das Thema hat den Stadtteil tief verunsichert. Ausgerechnet St. Pauli, das im Herbst mit einer überwältigenden Willkommenskultur Flüchtlinge in den Messehallen empfangen hat, das so stolz ist auf seine multikulturelle Einwohnerschaft und seine Toleranz, soll herhalten für eine fremdenfeindliche Wende? Niemals. Aber wie gewährleistet man Sicherheit für Gäste aus dem In- und Ausland, vor allem die weiblichen?
Die Stimmung auf der Reeperbahn
Peepshows wurden rasch verboten
Zwar ist der Januar von jeher ein eher besucherarmer Monat, aber an den ersten beiden Wochenenden dieses Jahres sind die Umsätze noch einmal deutlich zurückgegangen. „Wenn das so weitergeht, ist das der schlechteste Januar, den wir jemals hatten“, sagt Inge Malewitsch, Wirtin der Kult-Kneipe Gretel & Alfons an der Großen Freiheit. „Wir müssen etwas tun. Wenn keine Frauen mehr kommen, bleibt bald die ganze Straße leer.“ Der Spagat zwischen Sicherheit und Anrüchigkeit muss neu balanciert werden.
Das ist gar nicht so einfach. Das Geschäft mit der Erotik verleiht dem Kiez seinen Sex-Appeal. Aber seine Bedeutung ist geschrumpft und hat sich gewandelt. St. Pauli ist quasi ein Spiegel der sich ständig ändernden Vergnügungskultur.
Ältere Paulianer erinnern sich noch an die Zeit, als Prostituierte nicht nur an der Davidstraße und dem Hans-Albers-Platz, sondern auch auf dem Fischmarkt und bis weit in die Große Elbstraße hinein standen. Fischmarktbesucher ärgerten sich sonntags darüber, dass sie auf Kondomen ausrutschten. Nach der großen Umstellung auf Container in den 1960ern wurden die Liegezeiten der Schiffe im Hafen immer kürzer, immer weniger Seeleute hatten Zeit zum Landgang.
Gerritje Deterding erinnert sich noch an zwei Thailänderinnen, „die machten sich mit einer Agentur selbstständig und haben Prostituierte als ,Schwestern‘ oder ,Ehefrauen‘ an Bord der Schiffe organisiert. Aber auch das Fernsehen und vor allem die Videorekorder wurden zur Konkurrenz, jeder konnte zu Hause Pornofilme sehen.“ Und: Die Reeperbahn machte damals schon Negativ-Schlagzeilen wegen Nepp. Die Folge war, dass viele gutbürgerliche Hamburger keine Lust mehr auf den Kiez hatten. „Die Jungmühle, das Hippodrom oder der Kaiserkeller waren ja beliebte Tanzlokale gewesen, in die auch die normalen Hamburger gingen“, sagt Deterding. „Die blieben jetzt weg.“
Der erfolgreichste Kiez-Ermittler wurde zum Casino-Chef
Dafür kamen andere auf den Geschmack. Mit der Beatles-Ära strömten Tausende junge Hamburger zum Schwofen in Tanzbars wie den Star Club oder das Top Ten. Und die 68er verkündeten ein freieres Verhältnis zum Sex. Kiez-Fotograf Günter Zint gründete damals die „St.-Pauli-Nachrichten“, für die auch Henryk M. Broder, Günter Wallraff und Stefan Aust arbeiteten. „Wir wollten eine linke, coole Boulevard-Zeitung machen und damit vor allem gegen ,Bild‘ stänkern“, sagt Zint. Die „heuchlerische Doppelmoral“ in einer Gesellschaft, die Sex am liebsten quasi als betreutes Bumsen im Eros-Center verborgen hätte, forderte eine Antwort heraus: „Wir wollten der spießigen Bevölkerung auf witzige Weise nahebringen, dass eine Frau zwei Brüste hat. Sexismus ist damals für uns überhaupt kein Thema gewesen“, erinnert sich Zint. „Es gab bei der Apo auch Frauen, die deshalb Probleme mit uns hatten. Die Sexisten und Paschas, das waren ja wir.“
Zint wohnte damals mit seiner ersten Frau am Fischmarkt. „Belästigung gab es damals schon. Wenn meine Frau abends zu unserer Wohnung ging, wurde sie oft angebaggert. Sie hat dann immer gesagt: ,500 Mark!‘ Das hat gewirkt, weil keiner so viel zahlen wollte.“
Den schrumpfenden Rotlicht-Mythos kompensierte St. Pauli in anderen Bereichen. In den 70ern zogen immer mehr Spielhallen auf den Kiez, die hohe Mieten zahlen konnten. Ein Beispiel für den Wandel war die Tanzbar Heckel an der Reeperbahn, die unter anderem für muntere „Strandfeste“ bekannt gewesen war (Inhaber Heinrich Heckel war übrigens der Erfinder des „Rundstücks warm“: ein Brötchen mit Schweinebraten und Soße). 1987 eröffnete hier das Casino Reeperbahn, das erstmals auf drei Etagen ausschließlich 24 Frauen als Croupiers beschäftigte. Der erste Casino-Chef kam direkt aus der Davidwache gegenüber: Ludwig Rielandt, seit 1973 Leiter der Wache und erfolgreicher Kiez-Ermittler, wechselte 1987 den Job und die (Straßen-)Seite. Das sorgte damals in Hamburg für einiges Aufsehen.
Von 1979 an schossen außerdem die Peepshows wie Pilze aus dem Kiezboden. An die 30 soll es allein auf St. Pauli gegeben haben. Allerdings urteilte das Bundesverwaltungsgericht im Sommer 1982, die Zurschaustellung nackter weiblicher Körper in dieser Form verstoße gegen die „guten Sitten“ und verletze die Würde der Frau. Die Peepshows in St. Georg und auf St. Pauli wurden behördlich aufgefordert, den Betrieb einzustellen. Es dauerte noch einige Jahre, bis die letzte auf dem Kiez 1990 schloss.
Nach und nach kamen andere Vergnügungssparten hinzu
Das Schmuddel-Image von St. Pauli, das Helmut Schmidt mit dem Satz „Die Hamburger gehen da nicht hin“ ausdrückte, verfestigte sich in den 80ern. Dafür sorgten nicht nur die Zuhälterkriege. Der Spielbudenplatz, der heute mit Publikumsmagneten wie dem Santa-Pauli-Weihnachtsmarkt, dem wöchentlichen Nachtmarkt und der Street Food Session „St. Pauli Straßenmampf“ punktet, war damals noch eine grottenhässliche Ansammlung von Buden mit Kneipen und Spielhallen, mitten dazwischen stand wie ein Exot eine Reinigung namens Sauberland. Allerdings kann Schmidts Satz nicht ganz stimmen. Denn Sexclubs wie Tabu, Tanja, Safari und Kolibri hatten ja nicht nur auswärtiges Publikum. Für René Durands berühmtes Live-Sex-Theater Salambo gab der Hamburger DGB sogar Genussscheine an seine Mitglieder aus, bis es 1997 nach 30 Jahren schloss.
Aber neben dem Sexgeschäft etablierten sich immer mehr andere Vergnügungssparten. Das Operettenhaus feierte Dauererfolge mit „Cats“. Das St. Pauli Theater wandte sich von niederdeutschen Lustspielen ab und brachte immer mehr Comedy und internationale Gastspiele auf die Bühne. Und Corny Littmann fügte mit dem Schmidt Theater (1988) und Schmidts Tivoli (1991) eine ganz neue Farbe hinzu: Statt nur in Insiderkneipen hatten Schwule und Transen jetzt auch in den frechen, frivolen Shows einen offiziellen Platz auf St. Pauli. Das Schöne ist ja, dass Transen Witze über Männer UND Frauen machen können. Heute regiert Dragqueen Olivia Jones ein ganzes Imperium mit drei Bars, Kiez-Touren an fünf Wochentagen, Hafenrundfahrten und Special Events, die aus St. Pauli nicht mehr wegzudenken sind. Rund 100 Künstler und Mitarbeiter stehen auf ihrer Gehaltsliste. Damit gehört Jones zu den größten Arbeitgebern im Viertel.
Jede fünfte Straftat wird auf St. Pauli begangen
Anfang der 70er-Jahre schafften auf dem Kiez noch mehr als 1500 registrierte Prostituierte an. Inzwischen sind es nur zwischen 300 und 400. Ausgeweitet haben sich stattdessen das Touristengeschäft und die Feierkultur. „Die Leute kommen, um sich die Kante zu geben, Hemmungen fallen zu lassen“, sagt Gerritje Deterding. „Die Partygirls sind teilweise mehr aufgebrezelt als die Huren. Das führt natürlich auch zu Spannungen. Das Alter der Kiezbesucher ist gesunken, die Betriebe haben sich geändert.“ Viele alte, inhabergeführte Geschäfte sind inzwischen an Investoren oder Erbengemeinschaften übergegangen, die Geld sehen wollen und an die Meistbietenden vermieten. „Das sind aber oft nicht die Besten für den Kiez. Wir haben immer mehr Kioske und 99-Cent-Läden.“ Die Geiz-ist-geil- und Discount-Welle ist auch im Rotlichtmilieu angekommen und wirkt verheerend. „Sex für 29 Euro“, steht in großen Lettern über dem Geiz Club an der Reeperbahn. Laut der Website sind „die Damen alle selbstständig und arbeiten auf eigene Rechnung“. Viel werden sie da nicht abzurechnen haben ...
An normalen Wochenenden strömen rund 30.000 Besucher auf den Kiez, im Sommer oft 50.000 oder mehr. Solchen Zahlen, die nicht mal die City erreicht, entspricht leider auch eine Ballung in der Kriminalität. Jede zehnte Straftat in Hamburg passiert auf St. Pauli – jede fünfte Gewaltstraftat, jeder neunte Diebstahl und jede sechste Körperverletzung. An einem normalen Wochenende gehen auf der Davidwache rund 120 bis 200 Strafanzeigen ein, dazu kommen weitere 120 bis 150 Berichte. Eine bis zwei Beschwerden pro Wochenende richten sich gegen Abzocke in Bars oder Bordellen (die Zahl konnte erfolgreich gesenkt werden), eine bis drei gegen eine sexuelle Belästigung oder Nötigung. „Die Ereignisse der Silvesternacht könnten aber das Anzeigeverhalten verändern, sodass wir in der Zukunft von höheren Zahlen ausgehen“, sagt Polizeisprecher Holger Vehren. Bei Diebstahl kommen pro Woche im Schnitt 80 bis 120 Meldungen zusammen. Mit monatlich 1200 bis 1300 Einsätzen liegt die Davidwache im polizeilichen Spitzenbereich.
Die Partyszene lockt Stammkunden und Touristen
Aber die Polizeistatistik hielt bisher noch niemanden vom Vergnügen fern. Das Amüsierviertel St. Pauli besteht aus vielen verschiedenen Hotspots und befriedigt die Bedürfnisse vieler verschiedener Publikumsgruppen. Jedes Tierchen findet hier sein Pläsirchen: die Musical-Besucher und die Nur-mal-gucken-Provinzler, die in Bussen angekarrt werden. Die Händchenhalter-Paare, die immer besorgt wirken, dass einer von beiden in einen dunklen Hauseingang gezerrt werden könnte. Die Sex-Interessierten, die von weit her kommen, um sich in der Boutique Bizarre mit Latex und Hodenspannern einzudecken. Die Tanzmäuse und -mäuseriche, die von Indie bis Elektrofunk jede Sorte Livemusik finden. Die Party-Queens, die nach dem zehnten Gin Tonic zu Drama-Queens werden. Und die Jetzt-oder-nie-Draufgängerinnen, die Hau-auf-die-Kacke-Junggesellenabschiede und die Frauen-Flachleger und all die fröhlichen Mitmacher, die eigentlich um halb drei wieder nach Hause oder ins Hotel wanken möchten, sich aber vor den Dauerspaßhabern nicht trauen.
Gabriela Schenkat betreibt die JVA (Jedermanns Verpflegungsanstalt) an der Reeperbahn und die Kneipe Blauer Peter am Hamburger Berg. Das sind zwei grundverschiedene Lokalitäten. In die JVA mit einer Speisekarte, auf der Gerichte wie „Honkas Hackbeil“ oder „Wiener Peter“ nach bekannten Kiez-Kriminellen heißen, kommen Stammkunden und Touristen hauptsächlich zum Essen, nach dem Musical oder wenn Fußball ist, sagt Schenkat. „Sobald die Filmleinwand runtergeht, ist der Laden voll. Einen Türsteher brauchen wir nicht. Hier sitzen alle Nationalitäten friedlich zusammen, die Leute sind noch nicht so besoffen, dass sie übereinander herfallen.“
Am Hamburger Berg dagegen wird gefeiert, dass die Schwarte kracht. Das darf auch so sein: „THANK GOD IT’S FRIDAY! Heute Abend heißt es wieder Ekstase im Blauen Peter“, wirbt die Homepage. Hier sei ein Türsteher unabdingbar, vor allem ab 23 Uhr: „Wir haben dort heute viel mehr Dealer und dadurch auch Drogenkonsumenten als früher, auch viele Ausländer“, so Gabriela Schenkat. „Es geht nicht gegen Ausländer, unser Türsteher hat selbst afrikanische Wurzeln. Es geht darum, dass Leute nicht besoffen oder zugedröhnt reinkommen. Manchmal stehen auch 20, 30 Leute mit Getränken am Eingang, die sie im Kiosk billiger gekauft haben.“
„Es ist anders als früher ... Quasi feiern 2.0“
Etwa 100 Meter weiter sammelt sich im Herzblut von St. Pauli ein gemischt-mainstreamiges Publikum zwischen 20 und 50, das gutes Essen schätzt und Lust auf Party hat. Am Wochenende wird auch getanzt. Ärger an der Tür gebe es fast nie, sagt Geschäftsführer Dirk Kreuzer. Abgewiesen wird, wer zu alkoholisiert ist, „wir achten auch auf ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen“. Bekannt ist das Herzblut vor allem für seinen Stangentanz auf dem Tresen, bei dem weibliche Gäste ihre BHs ausziehen. Rund 50 davon hängen über der Bar, „im Lauf der Jahre haben wir ein paar Hundert gesammelt“. Das Lokal revanchiert sich bei den Amateurtänzerinnen mit zwei Flaschen Sekt oder einer Runde Cocktails.
„Manche Frauen kommen ohne BH und heben dann nur ihre T-Shirts“, erzählt Kellner Mehrdad. „Einmal hatten wir zwei Australierinnen, die beide auf dem Tresen mitmachten. Nach einem Jahr kamen sie wieder und erzählten, dass sie sogar in Australien über uns geschrieben haben!“ Eine andere Besucherin vom Typ Wuchtbrumme verlor beim Tresentanz das Gleichgewicht und krachte in die Zapfanlage. „Zum Glück hat sie sich nicht verletzt“, sagt Mehrdad. „Aber seitdem ist die Stange etwas schief.“
Die Große Freiheit wird am Wochenende zum Epizentrum der Feierwütigen. Während Gäste in Olivias Show Bar fröhlich zu Schlagermusik schunkeln und im Dollhouse gehobener Strip geboten wird, will der Pat Club gleich nebenan für „The crazy art of Kiez Clubbing“ stehen. Feiern stelle in der heutigen Zeit „ein Privileg“ dar, heißt es auf der Homepage. „Es ist anders als früher. Wild und zügellos. Quasi eine neue, frische Form der Ausgelassenheit. Quasi feiern 2.0.“ Zwar wird es auch bei Schlager-Partys im Safari Bierdorf ganz schön zügellos, aber im Pat Club tummeln sich besonders gern Studierende in den Stroboskopblitzen der Licht- und Soundanlage mit Flatscreens an den Wänden.
Optisch ist der Kiez Sexismus pur
Im Frieda B. am Hans-Albers-Platz treffen sich etwas ältere Jahrgänge mit Designerbrillen und -taschen und etwas geringerer Tattoo-Dichte pro Hautzentimeter zu feuchtfröhlichem Abtanzen. Hinterher liest man im Gästebuch, das Joost aus Holland da „ein schönes Mädchen“ kennengelernt hat, „leider habe ich deine Nummer nicht gefragt“. Auch Jenny aus Hamburg sucht nachträglich „den super netten Mann mit der grauen Strickmütze“, den anzusprechen sie sich nicht traute.
Aus einem Grunddilemma kommt das Amüsierviertel nicht heraus: Optisch ist der Kiez Sexismus pur. Tabledance-Bars werben mit Reklamebildern von Frauen in Strapsen mit Kussmündern, deren Brüste ballonartig aufgepumpt wirken. In den Auslagen der Sexshops sind Geräte für sämtliche Sexpraktiken und Körperöffnungen zu sehen. Lauter Einladungen, die Schamschwellen zu senken und jegliche Hemmungen fallen zu lassen. Große Freiheit eben. Die Idee ist, dass die Besucher ihre Hemmungen nun in geordneten Bahnen verlieren, also in Bordellen, Sexclubs oder Animierbars. Aber das tun nicht alle.
Anmache ist allgegenwärtig, „und Belästigung gab’s immer“, sagt Viktor Hacker, der als Autor, Kolumnist des Abendblatt-St.-Pauli-Blogs und mit Türsteherlesungen zum bekanntesten Türmann von St. Pauli geworden ist. „Belästigung beginnt ja schon lange vor dem Anfassen, mit Vollquatschen oder Bedrängen auf der Tanzfläche oder Den-Weg-Versperren. Das machen alle, wenn sie besoffen sind.“ Umsichtigen Türstehern sei es wichtig, sich auch darum zu kümmern. „Wenn wir so etwas sehen, fragen wir das betroffene Mädchen oft: Ist das dein Freund, ist das okay so für dich? Wenn allerdings auch die Mädchen besoffen sind, merken manche das Gegrapsche nicht mal und reagieren überrascht: Äh? Waas? Der hat mich waas?“ Die Grenze zwischen Einladung und Zudringlichkeit könnte zuweilen nicht mal Sherlock Holmes ermitteln.
Lange Zeit galten Türsteher als klobige Muskelprotze mit der Intelligenz eines Igels, die vor allem Minderjährige, Betrunkene und das Mitbringen von Fremdgetränken abweisen sollten. Und die schnell in die Presse gerieten, wenn sie dunkelhäutige Ausländer ablehnten. Inzwischen sind intelligente Türleute mit Sozialkompetenz – gern auch mit Migrationshintergrund – hoch begehrt. Von ihnen kann die ganze Stimmung im Club abhängen. Charbel – geboren in Frankreich, Eltern aus dem Libanon – hat acht Jahre lang an der Tür eines Musikclubs am Spielbudenplatz gearbeitet. „In den Club kommen vor allem Leute aus der Elektroszene, die sind sehr friedlich“, sagt er. „Manche Leute passen aber einfach nicht rein. Zum Beispiel Leute in Lederjacken mit dem Logo einer Gang. Es hilft auch nichts, wenn einer sagt: ,Ey Digga, Bruder, ich will ’n bisschen Musik hörn.‘ Dann fragen wir erst mal nach, auf was er überhaupt steht.“
Ärger an der Tür ist auf dem Kiez nichts Neues. Bisher gehörten vor allem vollgetankte Briten, Skandinavier und Deutsche zu den häufigsten Problemstiftern. Seit Silvester sind Nordafrikaner in den Fokus geraten. Das Recht der Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung ist tatsächlich zum Türsteherthema geworden. Aber wie will man eigentlich Backpacker aus Mexiko oder Erasmus-Studenten aus Spanien, die auch nicht immer gestylt unterwegs sind, von Nordafrikanern, Südosteuropäern oder Irakern unterscheiden?
Der Rockerkrieg zeigt, worum es geht
Manche männlichen Gäste fallen erst auf, wenn sie schon im Club sind. „Es gibt Typen, die Stress machen, wenn sie einem Mädchen ein Bier ausgegeben haben und das Mädchen sich dann mit einem anderen unterhalten will oder lieber allein weiterzieht“, sagt Charbel. „Die verhalten sich total besitzergreifend. Dann müssen wir einschreiten.“
Viktor Hacker sagt: „Je geringer die Bindungen an einzelne Clubs oder an den Kiez sind, desto geringer ist auch die Hemmschwelle, sich danebenzubenehmen nach dem Motto: ,Wenn ich wiederkomme, erinnert sich keiner an mich.‘“ In einem Club wie dem Molotow, das auf Indie/Alternative-Bands abonniert ist und überwiegend ein Stammpublikum hat, komme es „fast nie vor, dass sich ein Kerl aufs Damenklo verirrt. Auf dem Hamburger Berg schon eher, da wird das witzig gefunden.“ Auch in Hip-Hop-Clubs gebe es robuste Macho-Allüren. „Bei den Anzugträgern läuft das subtiler; manche halten sich für ein ganz besonderes Geschenk an die Menschheit und haben genaue Vorstellungen, wo die Frau hingehört und was sie zu tun hat. Diese Ich-bin-ein-erfolgreicher-Mann-Typen verstehen das Wort Nein oft nicht.“ Viele Frauen haben nach Hackers Eindruck offenbar noch Hemmungen, sich beim Personal Hilfe zu holen.
„Der Alkohol ist auf dem Kiez zu billig, die Jugend staut sich auf der Großen Freiheit. Und wo Massenaufläufe sind, gibt’s es Probleme“, meint Gerritje Deterding. „Heute akzeptieren viele Männer eine Abwehr nicht mehr ohne Weiteres, vor allem nicht, wenn sie betrunken sind. Das soll aber nicht bedeuten, dass sich Frauen unsicher fühlen müssten.“
An den vergangenen Wochenenden war die Polizei in ungewohnter Stärke auf St. Pauli präsent. Reiterstaffeln klapperten übers Pflaster, mehr als 100 Beamte patrouillierten durch die Straßen. Auf einem Krisengipfel beschlossen Clubbetreiber, künftig mobile Türsteher in der Großen Freiheit einzusetzen. Nach Silvester ist man wachsamer geworden. Nur: Wie lange hält die Polizei diese personellen Großeinsätze durch? Am liebsten hätten ein paar Schränke aus dem Milieu den „Schutz der Frauen“ selbst in die Hand genommen. Nur zeigt der Rockerkrieg zwischen Mongols und Hells Angels ja gerade, worum es ihnen wirklich geht: um Macht und ungestörtes Verdienen an Frauen und nicht um den Schutz von Besucherinnen.
St. Pauli war immer eine merkwürdige Zusammenballung aus Kämpfernaturen, Lebenskünstlern, Schönen und Schlägern, Fleißigen und Geschundenen. Nirgendwo sonst ist die Toleranz strapazierfähiger als hier, bis in die schattigsten Ecken. Vielen Veränderungen hat sich das Viertel mit der Tapferkeit eines Grubenponys gestellt, und Maßnahmen der Obrigkeit beobachtet man mit tiefem Misstrauen. Wahrscheinlich wird der Kiez sich auch jetzt wieder neu einpendeln. Meine 70-jährige Nachbarin, die fast ihr ganzes Leben lang in der Friedrichstraße gewohnt hat, sagt es so: „Irgendwas ist ja immer.“