Hamburg. Am ersten Wochenende nach Bekanntwerden der sexuellen Übergriffe sind wenig Feiernde und viele Beamte auf St. Pauli unterwegs.

Die Pferde vor der Davidwache verfehlen ihre Wirkung nicht: Einige Besucher machen lieber einen Bogen um die Reiterstaffel, die die Polizei am ersten Wochenende nach Bekanntwerden der Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht auf dem Kiez eingesetzt hat. Jeweils mehr als 120 Polizisten sind Freitag- und Sonnabendnacht auf der Reeperbahn, der Großen Freiheit und Umgebung unterwegs, einige von ihnen ausgestattet mit sogenannten Bodycams. Und auch Innen­senator Michael Neumann (SPD) und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sind in der Nacht zum Sonntag auf dem Kiez, um sich ein Bild zu machen.

„Wir wollen deutlich machen, dass man auf St. Pauli sicher feiern kann“, sagt Meyer zu der erhöhten Polizeipräsenz. Nun gehe es darum, möglichen Übergriffen präventiv entgegenzu­wirken. Darüber hinaus seien auch zahlreiche Zivilfahnder im Einsatz, die Erkenntnisse über mögliche Täter sammeln sollen. Er sei optimistisch, dass einige Fälle der Silvesternacht noch aufgeklärt werden könnten. Bisher ist das nicht der Fall. 153 Anzeigen gingen bis zum Montag bei der Polizei ein, in den meisten Fällen wurden Frauen im Bereich der Großen Freiheit belästigt, in einigen auch am Jungfernstieg.

Viele potenzielle Kiezgänger sind an diesem Wochenende offenbar jedoch lieber zu Hause geblieben. Zwar ist der Januar generell ein eher besucherarmer Monat, während aber an den meisten Wochenenden dennoch auf der Großen Freiheit dichtes Gedränge herrscht, ist an diesem Abend die viel belächelte „Armlänge Abstand“ kein Problem. „Man merkt schon, dass deutlich weniger Besucher kommen als sonst“, sagt etwa Tom Stutzt, Betreiber der Kiez Alm. „Es ist gut, dass die Polizei jetzt Präsenz zeigt. Wir müssen den Leuten das Gefühl geben, dass der Kiez sicher ist, dann kommen sie auch wieder.“ Auch Travestiestar Lee Jackson von der Olivia Jones Bar beobachtet, dass die Menschen wesentlich verhaltener seien als sonst. „Alle wirken angespannt.“ Sie selbst fühle sich aufgrund der hohen Polizeipräsenz jedoch sicherer. „Wir dürfen uns das Feiern jetzt nicht vermiesen lassen.“

Das versucht die Polizei zu unterstützen, indem sie immer wieder Gruppen junger Männer überprüft, am Beatles-Platz, vor dem Club Halo an der Großen Freiheit, vor Burger King an der Reeperbahn. Manchmal ernten die Beamten von den möglicherweise Verdächtigen Spott. „Spricht irgend­jemand Deutsch?“, fragt ein Polizist eine Gruppe Männer und bekommt prompt ein sehr deutlich auf Deutsch artikuliertes „Nö, niemand“ zurück. Die Polizei überprüfte in der Nacht zu Sonnabend 275 und in der Nacht zu Sonntag 197 Personen auf dem Kiez.

Auf der Großen Freiheit sind die Erinnerungen an die Silvesternacht noch deutlich. 15 bis 20 Frauen hätten bei ihm Schutz gesucht, sagt ein Türsteher des Halo. Mit Mühe und Not habe er die Absperrung seines Clubs noch verteidigen können. „Ich habe direkt zwei Meter vor mir gesehen, wie sie Frauen umringt und versucht haben, ihnen die Klamotten vom Leib zu reißen. Wenn die Frauen zu fliehen versuchten, wurden sie brutal zurückgerissen“, sagt er. „So etwas habe ich in 30 Jahren Tür noch nicht erlebt.“ Tessa Hagedorn, die seit Jahren den Club „Große Freiheit Nr. 7“ betreibt, sagt, die Männer seien ihr schon in den vergangenen Wochen aufgefallen. „Sie stehen vor den Clubs und warten, bis die betrunkenen Mädchen herauskommen.“ Kein Laden auf der Großen Freiheit lasse diese Männergruppen inzwischen mehr hinein.

Die Vorfälle von Silvester kommen also zumindest für Kiezkenner nicht ganz unerwartet. Ein Türsteher, der an der Großen Freiheit arbeitet, sagt, dass es bereits zu Halloween Übergriffe dieser Art gegeben habe, wenn auch nicht in gleichem Ausmaß. Auch Kiez-Alm- Betreiber Stutz berichtet Ähnliches: „Ich habe bereits Anfang November von Gästen gehört, dass sie auf St. Pauli von Gruppen abgedrängt, begrapscht und auch beklaut wurden.“ Seit drei Wochen lasse er die Promoterinnen nicht mehr allein auf die Straße, habe die Zahl der Türsteher aufgestockt.

Diejenigen, die die Nacht dennoch auf dem Kiez verbringen, lassen sich die Stimmung nicht vermiesen. „Ich fühle mich nach wie vor sicher in Hamburg“, sagt Alisia Ritter, 22. Die gleichaltrige Jessica Entreß wohnt in der Nähe von Stuttgart und ist zu Besuch in Hamburg. „Angst habe ich nicht. Aber die Stimmung ist schon angespannt: Unsere Eltern machen sich Sorgen und haben gesagt, dass wir aufpassen sollen.“ Eine Frau, die als Prostituierte am Hans-Albers-Platz arbeitet, sieht die Lage dagegen entspannt. „Das ist halt der Kiez. Für uns hat sich nichts geändert.“ Eine andere Kiezbesucherin sagt jedoch, sie habe nun immer ein Pfefferspray dabei, zur Sicherheit.

Alisia Ritter (l.) und Jessica Entreß
haben keine Angst auf dem Kiez
Alisia Ritter (l.) und Jessica Entreß haben keine Angst auf dem Kiez © HA | Michael Arning

Inzwischen sind wieder neue Fälle von sexueller Belästigung bekannt geworden. In der Nacht zum Sonntag wurde eine 31-Jährige am S-Bahnhof Reeperbahn begrapscht. Die Polizei nahm einen 23 Jahre alten Hamburger vorläufig fest, nach dem mutmaßlichen Haupttäter wird noch gefahndet. Um kurz vor 3 Uhr gaben außerdem, ebenfalls auf dem Kiez, zwei Frauen im Alter von 36 und 41 Jahren an, sie seien von Männern arabischen Aussehens sexuell belästigt worden.

Auch am Jungfernstieg hat es am Freitag offenbar erneut einen Angriff auf eine junge Frau gegeben. Gegen 20.30 Uhr soll diese von Männern sexuell belästigt worden sein. Zeugen alarmierten die Polizei, die vor Ort eine Gruppe überprüfte, aus der mindestens ein Mann die Frau nach bisherigem Ermittlungsstand begrapscht und dann eine Glasflasche nach ihr geworfen haben soll. Bei den Tatverdächtigen handelt es sich um acht Afghanen im Alter von 17 bis 24 Jahren. Das Opfer war bereits verschwunden, als die Polizei eintraf. Die Ermittlungsgruppe 161, die mit den Silvestervorfällen betraut ist, bittet die Frau, mögliche Begleiterinnen und Zeugen, sich zu melden.