Ursache der Schäden noch nicht eindeutig geklärt. Alle Mieter in Hotels untergebracht. Wilde Gerüchte machen mittlerweile die Runde. Großdemonstration am Sonnabend geplant.
Hamburg. Noch immer steht ein großer Bauzaun am Spielbudenplatz vor den Esso-Hochhäusern auf St. Pauli, Sicherheitsleute schauen grimmig, als müssten sie einen geheimen Staatsbetrieb schützen. Hin und wieder lassen sie Menschen passieren, die dann vor dem Komplex auf einer kleinen Bank warten müssen.
Nur in Begleitung dürfen die 91 Bewohner zurück in ihre Wohnungen, um Kleidung oder Wertsachen herauszuholen. Noch immer ist der Komplex wegen Einsturzgefahr gesperrt, nachdem er in der Nacht auf Sonntag überraschend evakuiert worden war, weil die Polizei eine akute Einsturzgefahr vermutet hatte. „Wir sind inzwischen alle in Hotels untergebracht“, berichtet Rainer Frank, 52, bei dem die Polizei nachts an der Wohnungstür geklingelt hatte. Frank bekam vom Eigentümer der Immobilie, der Bayerischen Hausbau, zudem einen Taxi-Gutschein und 50 Euro, um sich etwas zum Essen kaufen zu können. Weihnachten werde er wohl noch im Hotel verbringen, zum ersten Februar hat er von dem Unternehmen wie einige andere Mieter auch eine Ersatzwohnung bekommen.
Wilde Gerüchte machen die Runde, etwa dass die Risse nur erfunden wurden
Für gut 60 Mieter müssen Unternehmen und Bezirk jetzt aber noch eilig Ersatz suchen – denn nach weiteren Untersuchungen durch Bauexperten am Montag kommt Bezirksamtsleiter Andy Grote zu der Einschätzung, dass die Gebäude nie wieder bewohnt werden können. Voraussichtlich im ersten Quartal des kommenden Jahres werden sie wohl abgerissen. In einem späteren Neubau sollen die bisherigen Mieter zwar ein Rückkehrrecht bekommen, doch die Stimmung unter ihnen ist geteilt. Viele sind verunsichert. Vor allem weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll. Robert Majewski, 35, und Christian Najmann, 33, etwa konnten für 15 Minuten in ihr Zuhause, nahmen einige wenige Habseligkeiten mit. „In der Hektik haben wir natürlich etliche Sachen vergessen“, sagt Majewski. „Das alles so kurz vor Weihnachten. Das ist eine Katastrophe.“
Musikclub Molotow sucht Räume für Silvesterparty und Konzerte
Wilde Gerüchte machen mittlerweile die Runde. Etwa dass die Hinweise an die Polizei über angebliche Risse in den Wänden und das Wackeln der Häuser nur erfunden worden seien, um einen schnellen Abriss zu provozieren. Tatsächlich aber haben Gutachter bereits im Juni festgestellt, dass die in den 60er-Jahren gebauten Häuser zu fast 100 Prozent strukturell marode sind und bis spätestens Juni geräumt werden müssen. Allerdings: Neue, große Risse haben Baufachleute am Montag nicht gefunden, hieß es bei der Bayerischen Hausbau. Stattdessen gebe es die „Hypothese“, dass drei zeitgleiche, „sehr laute“ Musikveranstaltungen im Komplex und auf dem Spielbudenplatz die bereits geschädigten Gebäude in Schwingungen versetzt haben könnten.
Eine These, die zunächst zweifelhaft klingt. Doch der Hamburger Architekt und Kenner des Gebäudes André Poitiers teilt diese Einschätzung. Die Beton-Konstruktion der Pfeiler sei sehr leicht, so wie man sie heute nicht mehr bauen würde – daher auch die vielen Schäden. „Das ist, als wenn man eine Tafel Schokolade auf Zahnstochern bauen würde“, sagt er. Eine Bauweise, die Gebäude sehr anfällig für Schwingungen mache.
Unterdessen sieht der Zeitplan des Bezirks vor, dass nach einem Abbruch im kommenden Jahr ein städtebaulicher Wettbewerb erfolgen muss sowie ein spezieller Bebauungsplan aufgestellt wird. „Da kommt es dann mehr auf die Qualität als auf Schnelligkeit an“, sagt Bezirksamtsleiter Andy Grote, der mit einem Baustart in etwa drei bis vier Jahren rechnet. Denn noch ist zwischen Bezirk und Investoren umstritten, wie hoch der Anteil von Sozialwohnungen werden wird. Bei den geplanten Wohnungen fordert die Bezirksversammlung einen Anteil von 50 Prozent, die Bayerische Hausbau will indes ein Drittel geförderte Wohnungen bauen. Etwas anderes könne wirtschaftlich nicht realisiert werden, sagt Unternehmenssprecher Bernhard Taubenberger. Die Grünen im Bezirk fordern zudem den völligen Verzicht auf Eigentumswohnungen. „Das wäre dann schon wie eine schleichende Enteignung“, sagt Taubenberger. Mehr als 15.000 Quadratmeter Wohnraum könnte das Unternehmen bauen, wenn dafür ein neuer Bebauungsplan aufgestellt wird. Bisher hat der Wohnungsanteil eine Größe von etwa 4900 Quadratmetern. „Die bekommen da schon einen satten Planungsgewinn“, sagt Grünen-Politiker Michael Osterburg.
Die Häuser sind zu einem Symbol in der Debatte um Verdrängung geworden
Hinter den Forderungen des Bezirks steht auch ein starker öffentlicher Druck: Die Initiative Esso-Häuser, die Recht-auf-Stadt-Bewegung und viele Kulturschaffende streiten seit Langem für einen Erhalt der Häuser, die zu einer Art Symbol in der Debatte um Verdrängung geworden sind. Mieter mit geringem Einkommen könnten sich das Wohnen in der Innenstadt bald nicht mehr leisten, wenn überall nur teure Neubauten entstünden, so das Argument. Viele aus der Aktivistenszene machen die Bayerische Hausbau dafür verantwortlich, dass die Häuser mittlerweile so marode sind.
Ein weiteres Mal ins Blickfeld dürften die Esso-Häuser bei einer für Sonnabend geplanten Großdemonstration geraten, bei der die Polizei Krawalle befürchtet. Aufgerufen wurde zwar zu einer Solidaritätskundgebung für das von Linksautonomen besetzte Kulturzentrum Rote Flora – doch für den Erhalt der Esso-Häuser soll dabei gleich mitdemonstriert werden.