Mitarbeiter hatte die Anstaltsleitung wurden schon im Mai schriftlich auf gravierende Sicherheitsmängel hingewiesen. Schiedek: „Ich kannte diese E-Mail nicht“. Hätten häufigere Gitterkontrollen die Flucht verhindert?
Hamburg. Die gravierenden Sicherheitsmängel, die vor knapp zwei Wochen die spektakuläre Flucht des 25-jährigen Thomas S. aus dem Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis ermöglichten, waren der Anstaltsleitung schon seit zwei Monaten bekannt. Ein Mitarbeiter hat am 9. Mai unter anderen Anstaltsleiterin Claudia Dreyer in einer E-Mail darüber informiert, dass ein Teil der Außenmauer nicht mit einem Sicherungsdraht geschützt war. Das Schreiben wurde am Donnerstagabend während einer Sitzung des Justizausschusses der Bürgerschaft bekannt, in der Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) den Abgeordneten Rede und Antwort stand.
„Links und rechts von Turm 1 ist der S-Draht jeweils auf einer Länge von ca. 2 Metern auf der Mauerkrone entfernt“, schreibt der Mitarbeiter am 9. Mai. Über genau dieses Teilstück – der Wachturm war inzwischen abgerissen, der Stacheldraht während der andauernden Bauarbeiten nicht ergänzt – gelang Thomas S. in der Nacht vom 19. auf den 20. Juli die Flucht aus dem Gefängnis in der Neustadt. Der Beamte listet eine Reihe weiterer Sicherheitsmängel auf. Ausdrücklich schreibt er: „Gefangene, die diese gravierenden Mängel aus ihren Haftraumfenstern beobachten, könnten zu Ausbrüchen animiert werden.“
Schiedek erklärte vor dem Ausschuss, dass sie diese E-Mail nicht kannte. „Sie ist nur an die Anstaltsleitung gegangen“, sagte die Senatorin. Es sei auch durchaus üblich, dass solche Fragen auf der Ebene der einzelnen Gefängnisse geklärt würden. „Ein Teil der aufgelisteten Sicherheitsmängel wurde beseitigt“, sagte Schiedek. Unter anderem ragte laut E-Mail ein eineinhalb Meter langer Metallpfosten im rechten Winkel aus dem Mauerwerk, der als „Übersteigehilfe“ hätte genutzt werden können. Beamte hatten den Pfosten sofort aus der Verankerung gerissen.
„Aber der S-Draht wurde nicht ergänzt. Das war leider ein Fehler“, sagte die Senatorin. Offensichtlich sei die Anstaltsleitung der Auffassung gewesen, dass der fehlende Zaun nicht sicherheitsrelevant sei. Die Abgeordneten konnten Anstaltsleiterin Dreyer nicht befragen, da sie nicht im Ausschuss erschienen war. Angeblich soll in der Justizbehörde unabhängig von der E-Mail schon im Mai beschlossen worden sein, dass der fehlende S-Draht ergänzt wird. Auf die Frage, warum das im Juli noch nicht geschehen war, antwortete Schiedek: „Das kann ich mir nicht erklären.“
Das reichte dem CDU-Abgeordneten André Trepoll nicht. „Wo findet in Ihrem Haus eigentlich Führungsverantwortung statt?“, fragte Trepoll. „Sie erwarten doch nicht, dass ich jeden Tag durch die Justizvollzugsanstalten patrouilliere, um die Sicherheit zu kontrollieren?“, gab Schiedek gereizt zurück. „Ich bräuchte doch keine Anstaltsleitung, wenn ich jeden Vorgang selbst entscheiden müsste.“
Thomas S., der in der vergangenen Woche nach einer Öffentlichkeitsfahndung von der Polizei geschnappt worden war, hat inzwischen über Details seiner Flucht ausgesagt. Er hatte über mehrere Tage das marode Mauerwerk am Fenster seiner Zelle mit Besenstiel, Tischbein und Löffel so traktiert, dass er Steine herauslösen konnte. Dann zwängte er sich zwischen Mauerwerk und Gitterstäben, seilte sich mit einem Bettlaken aus der dritten Etage ab und sprang mehrere Meter tief. Die Mauer überwand er über eine Palette, die an der Baustelle auf Hof 1 abgestellt war. „Die Baustellensituation in der U-Haftanstalt ist ein unbefriedigender Faktor. Das entsprach nicht den üblichen Sicherheitsstandards im Strafvollzug“, räumte Schiedek ein. Dass eine Palette auf dem Gefängnishof stand, sei „ein klarer Fehler“ gewesen.
Auf Beamtenebene war im Dezember 2012 entschieden worden, die täglichen Gitterkontrollen in den Haftzellen auf drei Inspektionen pro Woche zu reduzieren. „Ich wurde darüber nicht informiert“, sagte Schiedek jetzt. Aber auch häufigere Gitterkontrollen hätten die Flucht nach Ansicht der Senatorin nicht verhindert, weil S. seine „Mauerarbeiten“ geschickt verborgen hatte.
„Es ist schwer vorstellbar, warum die Flucht nicht entdeckt wurde“, lautete Schiedeks Fazit dennoch.