EU-Kommissionspräsident zeigt sich erschüttert über die Gewalt auf den Straßen der Stadt, lobt den Gipfel aber als Erfolg.
Er vertrat die Europäische Union beim G20-Gipfel: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Im Interview nennt er die Ergebnisse „gut“. Von einem der Staatschefs zeigt er sich allerdings enttäuscht.
Es sind Bilder der Zerstörung und entfesselter Gewalt, die von G20 in Hamburg bleiben werden. Haben Sie eine Botschaft an die linken Randalierer, Herr Juncker?
Jean -Claude Juncker: Ich höre gern zu, wenn mir Menschen etwas zu sagen haben. Das ist eine Selbstverständlichkeit, denn Politik hat den Menschen zu dienen. Im Namen aller, die sich für eine bessere Zukunft engagieren und friedlich demonstrieren, bin ich allerdings erschüttert über die Gewalt, die so unverständlich wie sinnlos ist. Brennende Autos und fliegende Gullydeckel mögen laut sein, aber ihre Botschaft erstickt im Lärm und Krawall.
Erschüttert sind viele. Was folgt daraus?
Jean -Claude Juncker: Konstruktiv Politik mitgestalten können nur diejenigen, die gemeinsam etwas aufbauen, nicht diejenigen, die wutgetrieben zerstören. Ich habe Verständnis dafür, wenn Menschen gegen den Kinderhunger in Afrika oder gegen die Folgen des Klimawandels oder der Globalisierung protestieren. Das sind Themen, die die Welt bewegen. Und das sind Themen, die wir beim G20 aufgegriffen haben und bei denen wir uns für gemeinsame Lösungen einsetzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Ist der Beweis erbracht, dass sich Großstädte nicht als Veranstaltungsorte für Weltgipfel eignen?
Jean -Claude Juncker: Weltgipfel treten schon per Definition in einen Dialog mit der Welt. Die freie Hansestadt Hamburg war besonders geeignet für den diesjährigen Gipfel, der im Zuge des wachsenden Protektionismus um uns herum den globalen Handel in den Mittelpunkt gerückt hat. Hamburg ist symbolisch für die Werte, für die wir Europäer stehen und die wir beim Gipfel erfolgreich vertreten haben: eine Stadt, die mit ihrer Weltoffenheit das globale Handelssystem stärkt und die Globalisierung mitgestaltet.
Das klingt – angesichts der Bilder – allzu idealistisch.
Jean -Claude Juncker: Vergessen Sie nicht, dass bei einem G20-Gipfel etwa 10.000 Delegierte untergebracht werden müssen. Das geht schlecht in einem Dorf oder auf einer Nordseeinsel. Darüber hinaus war der Gipfel – aller Gewalt zum Trotz – ausgezeichnet vorbereitet. Angela Merkel, aber auch den engagierten Polizisten und Sicherheitskräften, gebührt Dank dafür, dass sie sich von den Ausschreitungen nicht vom Kurs haben abbringen lassen.
Hat der Hamburger Gipfel einige Erwartungen erfüllt - oder sind auch politisch die schlimmsten Befürchtungen eingetreten?
Jean -Claude Juncker: Als jemand, der schon an vielen Gipfeln teilgenommen hat, habe ich mir Erwartungen und Befürchtungen abgewöhnt. Ich bewerte Gipfel nach ihren Ergebnissen und danach, ob sie den Maßstäben des Menschenverstandes genügen. Diesmal sind die Ergebnisse gut.
Wirklich?
Jean -Claude Juncker: Wir haben eine G20-Erklärung der Einigkeit. Nicht 19 gegen einen, wie vorab verbreitet wurde, sondern eine Gipfelerklärung mit allen 20. Das lag auch an dem positiven Wind, den wir Europäer diesmal in den Segeln hatten. Schon bevor der Gipfel losging, konnte ich mit Japan ein Wirtschaftsabkommen besiegeln. Unsere guten europäischen Agrarprodukte wie der Holsteiner Katenschinken werden künftig durch ein EU-Siegel im japanischen Markt geschützt. Diese neue Wirtschaftspartnerschaft mit Japan ist eine klare Absage an den Protektionismus und ein starkes Signal für freien und fairen Handel, bei dem alle gewinnen.
Das ist kein Erfolg der G20.
Jean -Claude Juncker: Wir haben uns darauf geeinigt, gemeinsam den Terror in der Welt zu bekämpfen und Terroristen nicht nur die Finanzquellen trockenzulegen, sondern ihnen auch die Bühne zu nehmen. Wir werden hierbei eng mit Unternehmen und vor allem den sozialen Medien zusammenarbeiten. Denn es kann nicht sein, dass Terroristen das Internet zum Hass missbrauchen, wo es doch die Menschen zusammenbringen soll. Und wir haben uns alle gemeinsam mit China und den USA darauf geeinigt, verstärkt gegen Überkapazitäten beim Stahl vorzugehen, von denen die europäische Stahlindustrie besonders betroffen ist.
Sie verdrängen den Dissens beim Klimaschutz.
Jean -Claude Juncker: Auch beim Klimawandel haben wir eine starke Allianz geschmiedet – wenngleich die USA aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat als Vorsitzende der G20-Präsidentschaft ausgezeichnete Arbeit geleistet, um Brücken zu bauen und Kompromisse zu schmieden. Das bestätigt die Rolle der G20 als ein Forum für Kompromisse – vor allem in Fällen, in denen es anfangs gegensätzliche Meinungen gibt.
Was hat Sie enttäuscht?
Jean -Claude Juncker: Enttäuscht ist man nur, wenn man sich ein Ziel setzt und es nicht erreicht. Wenn sich 20 Staaten, die fast zwei Drittel der Weltbevölkerung und über 85 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung stellen, einig sind, wie wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen, dann ist das ein Erfolg, den man nicht kleinreden darf. Handel, die Sicherheit unserer Bürger oder Migration sind Fragen, die nicht an Grenzen halt- machen. Und so ist auch unsere Antwort darauf eine gemeinsame. Besonders die Reihen der Europäer waren bei diesem Gipfel geschlossener als je zuvor. Somit hatten wir mehr Gewicht bei der Ausarbeitung der gemeinsamen Lösungen – zum Beispiel, indem wir anderen Partnern ein klares Bekenntnis gegen den Protektionismus abringen konnten. Betrübt bin ich allerdings darüber, dass die USA bei ihrem Kurs bleiben, nicht beim Pariser Klimaabkommen mitzumachen. Gleichzeitig ist es ein wichtiges und richtiges Zeichen, dass die restlichen G19 das Pariser Abkommen für unumkehrbar erklärt haben.
Ist US-Präsident Trump in Hamburg seiner Verantwortung gerecht geworden?
Jean -Claude Juncker: Präsident Trump ist noch in seinem ersten Amtsjahr. Ich bin zuversichtlich, dass Gipfel wie dieser hilfreich sind, um die Routine des demokratischen Kompromisses, die wir Europäer in vielen langen Gipfelnächten erworben haben, weiter auszuprägen. Bei diesen Gipfeln lernt man sehr schnell, dass nationale Interessen langfristig durchaus durchsetzbar sind, wenn sie miteinander statt gegeneinander auf den Tisch kommen.
Sie fordern, dass Europa mehr Verantwortung übernimmt. Ist die Europäische Union bei diesem G20-Gipfel in Hamburg tatsächlich als einiger, mächtiger Akteur aufgetreten?
Jean -Claude Juncker: Europa ist in Aufbruchsstimmung – nicht nur unsere Wirtschaft, die seit vielen Monaten stärker wächst als die der USA, hat wieder an Schwung gewonnen, sondern auch unser gemeinsames Projekt. Das war auch bei diesem Gipfel spürbar– zumal wir ihn ja mit einem starken Signal für unsere Werte begonnen haben. Die Welt schaut auf Europa, weil es Stabilität und Sicherheit vermittelt, weil es geschlossen für seine Werte – für Zusammenarbeit, Freiheit und Offenheit – kämpft.