Hamburg. Im Wesselhoeftpark gedeihen jahrtausendealte Pflanzen. Botanischer Verein arbeitet an Kataster von höchst seltenen Arten.
Geheimnisvoll gluckert der Mühlenteich. In der Uferregion ist der Erdboden morastig. Schritte federn; manchmal sinken die Schuhe ein. Schlingpflanzen wuchern an Baumstämmen. Richtung Elbe ist gibt es kein Durchkommen – alles zugewachsen. Blickdicht. Ein paar Meter weiter plätschert die Kleine Flottbek, ein Bach. Auch die üppige, mannshohe Pestwurz gedeiht in paradiesischem Umfeld. Abgesehen von ein paar Vogelstimmen herrscht Stille.
Wir befinden uns nicht in der Amazonasregion, sondern im Westen Hamburgs, in Nienstedten, im Wesselhoeftpark. Und die Ortsbeschreibung eben im grünen Idyll bei Teufelsbrück stammt keinesfalls aus dem Mittelalter oder noch weiter davor, sondern aus der Neuzeit. Wobei dieser Vergleich gar nicht weit hergeholt ist: An genau dieser Stelle befand sich vor Christi Geburt tatsächlich so etwas wie ein Urwald. In diesem Park unverändert präsente Pflanzen wie Waldschwingel, Lerchensporn oder Scheiden-Gelbstern haben zwei- bis dreitausend Jahre überstanden. Wenn man so will, handelt es sich um die ältesten Pflanzenvorkommen Hamburgs. Fachleute können Wurzeln und Blattwerk zweifelsfrei identifizieren.
„Es ist wie ein Wunder“, sagt Hans-Helmut Poppendieck bei einem spannenden Lokaltermin vor Ort. Auf den Spuren unserer grünen Vergangenheit offenbart der Wesselhoeftpark als einer der historischen Wälder der Region eine Vielzahl biologischer Raritäten. Kaum ein Spaziergänger ahnt, welche der hier vorhandenen Pflanzen Jahrtausende auf dem Stängel haben. Im Frühjahr, wenn alles blüht, fallen selbst dem aufmerksamen Beobachter die unscheinbaren Blüten des Lerchensporns oder des Scheiden-Gelbsterns am Hang kaum auf.
Suche nach der Teufelskralle
Poppendieck ist auf der Suche nach der hiesigen Teufelskralle, eine der ältesten einheimischen Gewächse und eine wahrhaftige Seltenheit. Jetzt, im Spätsommer, ist von ihren weißen Blütenkerzen und ihren schwarzgefleckten Blättern nichts mehr zu finden. In Hamburg ist ihre Existenz sonst nur im Jenischpark, im Bereich der Volksdorfer Teichwiesen sowie im Alstertal bekannt. „Der Name bezieht sich auf die merkwürdig geformten Einzelblüten“, weiß Poppendieck. Der promovierte Botaniker, langjähriger Kustos an der Universität der Hansestadt, engagiert sich als Vorsitzender des Botanischen Vereins für den Erhalt unserer Pflanzenwelt. Im von ihm herausgegebenen „Hamburger Pflanzenatlas“ sind mehr als 1200 verschiedene Arten dokumentiert.
Kein Wunder, dass sich Hans-Helmut Poppendieck beim Treffen in den Elbvororten in Hochform präsentiert. Von der Straße Lünkenberg her betreten wir den Wesselhoeftpark. Am Wegesrand entdeckt der leidenschaftliche Naturfreund eine Überraschung nach der anderen. Beispiel ist die im April und Mai rot blühende Prachthimbeere. Später trägt sie gelbe, schmackhafte Früchte. Über die spaßige Bezeichnung „Trüffelschwein“ muss Poppendieck schmunzeln. Für ihn ist jeder Spaziergang im Grünen ein Abenteuer.
Waldschwingel und Gelbstern
Seinen Rucksack deponiert der Wissenschaftler am Geländer der Holzbrücke neben dem Mühlenteich. Bedächtig betritt er den matschigen Grund am Ufer. Im Vergleich zu jahrtausendealten Gewächsen wie Teufelskralle, Gelbstern oder Waldschwingel ist die im Park wachsende Pestwurz mit etwa 150 Jahren relativ neu hier. „Die weiblichen Exemplare dieser einheimischen Großstaude sind sehr selten“, weiß der Profi. Im Gegenteil zu den männlichen, die früher wahrscheinlich als Arznei gegen die Pest verwendet wurde. Daher der Name.
Und warum haben so seltene und uralte Pflanzen im Wesselhoeftpark überlebt, Herr Dr. Poppendieck? Er geht weiter Richtung Quellental und Westerpark, deutet auf die Landschaft: „Hier ist sie noch relativ ungestört.“ Ausgangs der Bronzezeit vor rund 2800 Jahren war das in dieser Gegend nicht anders. Im Gebiet des heutigen Nienstedten lebten wohl Bauern und Viehwirte. „Die Pflanzen zeigen uns heute, dass es hier seit Jahrtausenden dauerhaft Wald gibt“, erläutert Poppendieck. Sonst hätten Waldschwingel oder Gelbstern keine Überlebenschance gehabt.
Zeitintensives Projekt
Auch um die Existenz solcher Raritäten zu sichern, listet der Botanische Verein nach und nach Vorkommen und Vielfalt im Großraum Hamburg auf. Titel des zeitintensiven Projekts: „Seltene Pflanzen in Hamburg.“ Im Auftrag der Umweltbehörde entsteht ein „Arten-Kataster“. Poppendieck und Mitstreiter sind regelmäßig unterwegs, um biologische Wunder zu finden und zu erfassen. Pflanzen wie der durch den Stopp der Elbvertiefung bekannt gewordenen Schierlings-Wasserfenchel oder die in Teufelsbrück gedeihende, weit mehr als 2000 Jahre alte Wibelschmiele gibt es nur an der Elbe bei Hamburg.
„Unsere“ Teufelskralle, die mit den großartigen weißen Blütenkerzen und den schwarzen Mustern auf den Blättern, ist weitgehend unbekannt. Eingeweihte finden sie auch an mehreren Stellen im Jenischpark. Die afrikanische Teufelskralle, ein Sesamgewächs aus Namibia, soll als Heilpflanze gegen Arthrose und Rheuma helfen. Doch das nur am Rande.
„Auf denn“, sagt Poppendieck – und schreitet voran. Von einem Park in den benachbarten. Östlich des Ernst-Barlach-Hauses entdeckte er im Vorjahr einige Teufelskrallen. Auf Deutsch: Was hier schon vor fast 3000 Jahren wuchs, säte sich immer wieder aus – und gedeiht unverändert. Die genaue Position dieses biologischen Wunders jedoch, das ist seine Bitte, möge nicht preisgegeben werden. Damit es den ältesten Lebewesen unserer Stadt unverändert gut gehen möge.
An folgenden Orten lassen sich laut botanischem Verein auch alte Pflanzenarten finden:
- Wittenbergen
- Jenischpark und Quellental
- Lutherpark in Bahrenfeld
- Niendorfer Gehege
- Mittleres Alstertal
- Gutswälder in Farmsen und Berne
- Wehlbrook (Rahlstedt)
- Krankenhaus Hinschenfelde
- Eichtalpark
- Wandsbeker Gehölz
- Rodenbeker Quellental
- Wohldorfer Wald
- Duvenstedter Brook
- Rönneburg
- Volksdorfer Teichwiese Bergstedt
- Eißendorf
- Schwarze Berge