Hamburg. Die Niendorferin Nellie Wullenweber forscht im ewigen Eis – fernab von frischem Obst und unter lebensfeindlichen Bedingungen.
Ein Königreich für einen knackigen Apfel. Und selbst wenn er nicht mehr knackfrisch wäre – ein Apfel wäre großartig für das Team auf der Neumayer-Station III des Alfred-Wegner-Instituts (AWI). Dort gibt es schon länger keine frischen Früchte mehr. Nellie Wullenweber beklagt sich darüber nicht, „aber wir freuen uns alle sehr auf das erste Obst“, sagt die Hamburgerin.
Die Wissenschaftlerin aus Hamburg-Niendorf kann nämlich nicht einkaufen gehen. In ihrer Umgebung gibt es weit und breit keine Geschäfte – denn die 28-Jährige überwintert in der Antarktis. 14.000 Kilometer trennen sie von ihrer Heimat. Erst im Februar 2024 wird sie von der Basis der deutschen Antarktisforschung zurückkehren.
Antarktis: Hamburgerin hat ungewöhnlichen Job im ewigen Eis
Während hier derzeit 30 Grad herrschen, sind es in der Antarktis 30 Grad minus. Nellie Wullenweber lebt schon seit acht Monaten im ewigen Eis, seit sie im Dezember 2022 ans andere Ende der Welt zur deutschen Forschungsstation gereist ist.
Eine Reise in die Antarktis bucht man nicht im Reisebüro. Die Anreise wird zwar vom AWI stets akribisch organisiert, aber zu Zeiten von Corona war sie entsprechend langwierig. Die Hamburgerin musste sich erst fünf Tage isolieren, ehe sie losfliegen konnte. Mit einem gecharterten Flugzeug ging es dann von Bremen nach Oslo, um dort die Kollegen vom norwegischen Polarinstitut einzusammeln.
In Südafrika durfte das Team das Hotelzimmer nicht verlassen
Die Norweger und Südafrikaner und ihre Stationen seien in der Antarktis die nächsten Nachbarn, sagt Wullenweber im Video-Telefonat, obwohl diese Bezeichnung es nur bedingt trifft: „Ich glaube, das sind auch noch mal so 300 Kilometer.“
Nach zwei weiteren Zwischenlandungen erreichten die Teams Südafrika. Doch Sightseeing war verboten, stattdessen folgten wieder mehrere Tage Isolation im Hotelzimmer. „Wir mussten ein Wetterfenster abwarten, um zu sehen, dass der Flug über das Polarmeer möglich und dort die Landebahn in Ordnung ist.
Die kleine Maschine kann nur auf Kufen landen
Am 16. Dezember 2022 erreichte das Flugzeug die Station der Norweger. „Die haben eine größere Landebahn. Dort kann das Flugzeug mit dem normalen Fahrwerk landen“, sagt die Wissenschaftlerin. Für die zehnköpfige Crew aus Deutschland ging es von dort mit einer kleinen Maschine, die auf Kufen landet, weiter.
Eingepackt in einen Polar-Overall haben sie und die anderen Neulinge sich bei der Anreise schon einmal daran gewöhnen müssen, immer ein Survival-Pack, eine Notfallausstattung, dabeizuhaben – mit Schlafsack, Isomatte und dicker Kleidung, sagt Wullenweber. „Auch jetzt, wenn wir hier im Stationsumfeld unterwegs sind, haben wir immer zu zweit eine Box dabei. Da ist auch Astronautennahrung drin, die man einfach mit Wasser aufgießen kann.“
Die Forscherin ist in Hamburg-Niendorf aufgewachsen
Aufgewachsen ist Nellie Wullenweber im Hamburger Stadtteil Niendorf. Nach ihrem Abitur am Gymnasium Bondenwald studierte sie Umweltwissenschaft in Greifswald. Ihren europäischen Masterstudiengang Marine Resources (Marine Umweltwissenschaften) absolvierte sie an gleich vier Universitäten – in England, Spanien, Belgien und Norwegen. Schon damals bewies sie eine große Portion Reiselust.
Nach wechselnden Jobs bewarb sie sich schließlich für eine Festanstellung beim AWI. Die Bewerbung habe sie im Februar 2022 geschickt, „im April kam schon die Zusage. Im August habe ich angefangen zu arbeiten.“ Es folgten vier Monate Vorbereitungszeit. Sie sei auch zu unterschiedlichen Instituten in Deutschland gefahren, um Einweisungen in die verschiedenen Messinstrumente zu bekommen.
Monatelang sind Wullenweber und ihre Kollegen auf sich allein gestellt
Das Wissen, dass sie und ihre Kollegen monatelang komplett auf sich allein gestellt sein werden, habe ihr anfangs Sorgen bereitet, man könne ja nicht die Feuerwehr oder den Notarzt rufen, sagt sie. „Aber man wird gut vorbereitet.“
Allerdings gebe es noch die soziale Komponente. „Du bist mit diesen Menschen, die du vor drei, vier Monaten kennengelernt hast, erst mal acht Monate, ich will nicht sagen eingesperrt. Da kommen dir schon ein paar Bedenken." Aber die seien inzwischen alle verflogen, sagt sie und lacht.
Nur einmal im Jahr läuft ein Schiff die Forschungsstation an: „Das geht nur im Sommer, also wenn in Deutschland Winter ist, sonst haben wir zu viel Eis.“ Jahreszeiten vergleichbar mit denen in Deutschland gebe es in der Antarktis nicht – „hier sind immer Minusgrade“, sagt Nellie Wullenweber, aber langsam werde es jetzt Frühling. Im Dezember in Deutschland ist dann am Südpolar Sommer. „Dann sind hier angenehme Temperaturen, also nur einstellige Minusgrade, es ist den ganzen Tag hell.“
Die „Polarstern“ bringt einmal im Jahr Proviant zur Station
Die „Polarstern“, ein Eisbrecher, erreichte die Station etwa zwei Wochen nach dem Eintreffen der neuen Crew. Das Schiff hat dann stets den Proviant für ein ganzes Jahr im Laderaum. Die Station ist laut Wullenweber maximal auf 60 Leute ausgelegt, im antarktischen Sommer leben etliche Wochen lang gut 50 Menschen gleichzeitig dort.
„In dieser Zeit findet ein Austausch von Wissenschaftlern statt, dann werden auch viele technische Wartungen gemacht. Wir hatten so eine Überlappungsphase, da hat mein Vorgänger mir alles gezeigt“, erzählt die AWI-Wissenschaftlerin, „Die sogenannten Alt-Üwis (Alt-Überwinterer) arbeiten die Neu-Üwis ein.“
Die deutsche Station in der Antarktis ist bereits die dritte
Die Neumayer-Station III wurde 2009 in Betrieb genommen und steht auf hydraulischen Stelzen. Die beiden älteren Stationen waren noch unterirdisch gebaut worden, doch der Druck des Eises war irgendwann zu groß geworden.
Nach der Abreise aller Techniker und Alt-Überwinterer übernahm die kleine zehnköpfige Crew die Station. „Seit Anfang März 2023 sind wir allein hier“, sagt die Hamburgerin. Drei Frauen und sieben Männer im Alter von 28 bis 56 Jahren sind seither ganz auf sich gestellt. Neben fünf Wissenschaftlern und drei Technikern sind es eine Köchin und ein Arzt, der zugleicht der Stationsleiter ist.
Die Bewohner müssen mit der Dunkelheit zurechtkommen
Dieses Zusammenleben sei vergleichbar mit dem Leben in einer großen Wohngemeinschaft – nur ohne direkten Kontakt zu Nachbarn oder Freunden. Kein Grillfest im Sommer, kein Glühweintrinken im Winter, denn andere Menschen sind zu weit weg. Flugzeuge gibt es im Winter nicht.
Und die Bewohner müssen mit der Dunkelheit zurechtkommen. „Während der Polarnacht Mitte Mai bis Mitte Juli geht die Sonne gar nicht auf. Also insgesamt zwei Monate. Man hat immer um zwölf Uhr mittags eine leichte Dämmerung am nördlichen Horizont, weil die Sonne ja im Norden steht. Davor hatte ich auch fast am meisten Angst, dass mir diese Dunkelheit sehr zu schaffen macht, weil ich so sonnenliebend bin.“
Für ihre Arbeit muss die Hamburgerin jeden Tag raus ins Eis
Aber weil sie für ihre Arbeit jeden Tag die Station verlassen müsse, habe sie doch immer etwas am Himmel gesehen, „teilweise Sterne, manchmal Polarlichter. Das war echt was Besonderes. Gleichzeitig war aber der Moment, als ich die Sonne das erste Mal wieder gesehen habe, etwas, das ich gar nicht beschreiben kann.“
Weil es viele Stürme gibt, gehe man ab einer bestimmten Windgeschwindigkeit aber nicht mehr allein vor die Tür, sondern sicherheitshalber zu zweit oder dritt, vor allem, wenn es dazu noch schneit. „Bei einem richtigen Schneegestöber sieht man keine fünf Meter weit, dann ist es einfach nur dunkelgrau.“
Antarktis: Die Überwinterer bewohnen derzeit Einzelzimmer
Derzeit bewohnen die Überwinterer alle Einzelzimmer. „Zum Glück haben wir jetzt im Winter unsere eigenen Zimmer. Ich bin auch mal ganz froh, meine Tür für ein bisschen Ruhe zu zumachen. Im Sommer, wenn die Station voll besetzt ist, werden die Zimmer geteilt.“
Sogar ein paar persönliche Dinge hat die Hamburgerin mit dem Versorgungsschiff bekommen. Neben einem kleinen Wandteppich eine Lichterkette, um ihr Zuhause auf Zeit ein wenig gemütlicher zu machen.
Warm haben sie es in der Station, denn es gebe Blockheizkraftwerke und eine Windkraftanlage, die zusätzlich Strom liefert. Um Wasser zu bekommen, werden Schnee und Eis geschmolzen und aufbereitet.
Team der Antarktis-Station wird von Köchin versorgt
Eva Link, eine Frau aus dem Team versorgt die anderen Neumayer-III-Bewohner als Köchin. „Hauptsächlich gibt es Tiefkühlkost, aber Eva lässt sich immer etwas einfallen.“ Im Rahmen des Möglichen. Die Äpfel sind seit etwa zwei Monaten alle, und frischen Salat gibt es schon seit Monaten nicht mehr.
Aber neben tiefgekühltem Brot backe die Köchin immer mal frisches Brot. Und auch Joghurt wird frisch zubereitet. Für die Lebensmittel gibt es im Untergeschoss der Station große Lagerräume, die konstant auf minus 25 Grad gehalten werden.
Eigentlich lebe sie vegan, sagt die Polarforscherin, doch in der Station lebe sie vegetarisch, weil das Angebot sonst einfach zu eingeschränkt sei. Frühstück bereitet sich jeder individuell zu, aber um Viertel nach zwölf treffen sich alle üblicherweise zum gemeinsamen Mittagessen. „Da gibt es meistens irgendwas Warmes. Eva ist da ganz kreativ.“
Wenn etwas alle ist, muss man darauf verzichten
Das Essen sei nicht rationiert, aber man könne natürlich nicht alles haben – nur das, was es noch gibt. Und manches gebe es eben nicht mehr. „Trauriges Thema, ja Hafermilch gibt es nicht mehr. Genauso wie Äpfel und Orangen, Tomaten oder Gurken“, sagt Nellie Wullenweber. Sie müssten bis zum antarktischen Sommer warten, wenn das Schiff wiederkommt.
Worauf sie sich am meisten nach ihrer Antarktis-Zeit freut: „Auf das erste Obst und knackigen Salat. Und darauf, einkaufen zu gehen – zu den Obst- und Gemüseregalen. Das lernt man hier schon schon noch mal anders zu schätzen.“ Andererseits sei es interessant, wie schnell man sich an den Verzicht gewöhne.
Ganz in der Nähe der Station ist eine Pinguin-Kolonie
Dafür biete ihre Umwelt andere Freuden: „Wir haben das große Glück, ziemlich dicht an einer großen Kaiserpinguin-Kolonie zu sein, etwa acht Kilometer entfernt.“ Schätzungsweise 20.000 bis 25.000 Tiere leben da. Derzeit sei Schlüpfzeit. „Die haben jetzt kleine Küken unter der Bauchfalte.“
Sie seien zwar angehalten, möglichst großen Abstand zu den Tieren halten, doch Pinguine sind sehr neugierig und kommen selbst zu den Menschen, berichtet Wullenweber.
Wer sich von der Station weiter als auf Sichtweite entfernt oder mit dem Schneemobil unterwegs ist, dürfe das zur Sicherheit nur in Begleitung zu tun, so die Regel. „Es sind einfach sehr lebensfeindliche Bedingungen hier.“
Nellie Wullenweber ist verantwortlich für das luftchemische Observatorium
Die Wissenschaftlerin ist verantwortlich für das luftchemische Observatorium, eines der drei großen Observatorien. Ihre Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass alle Instrumente für die Langzeitmessreihen laufen. Damit die Neumayer-Station III die Messergebnisse nicht beeinflusst, ist ihr Observatorium eineinhalb Kilometer davon entfernt.
Ihr Arbeitstag beginnt daher täglich mit einem Spaziergang durch Eis und Schnee. Tatsächlich täglich. Freie Wochenenden und Urlaub sind nicht vorgesehen. „Es müssen täglich Filter gewechselt werden, es muss geguckt werden, dass alle Instrumente laufen und dass das Observatorium noch tut, was es soll. Man stapft mit Stirnlampe durch Schneegestöber, durch schönsten Sonnenschein oder sieht auch mal Polarlichter.“
Auch an den Wochenende arbeitet die Wissenschaftlerin
Aber weil man sich ohnehin nicht mit Freunden verabreden oder ins Kino gehen könne, sei es nicht schlimm, keine freien Wochenende zu haben, versichert die Forscherin.
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Doch nicht nur der Dauereinsatz unterscheidet sich vom Leben in der Zivilisation. Auch medizinische Notfälle können dramatisch werden, wie jüngst der Fall in der australischen Station Casey zeigte. Ein Eisbrecher, medizinisches Personal und zwei Helikopter waren nötig, um einen kranken Forscher aus der Antarktis zu evakuieren.
Stationsleiter auf der Neumayer-Station III ist Arzt und Chirurg
Sollte einer aus dem deutschen Team erkranken, ist Neumayer-III-Stationsleiter Peter Frölich gefordert. „Er ist Arzt und Chirurg. Und er hat vorher ein Praktikum beim Zahnarzt gemacht.“
Jeder habe zwar vor dem Einsatz im Eis medizinische Tests durchlaufen, aber kleine Unfälle passieren dann trotzdem. Nellie Wullenweber hat sich etwa den linken Daumen gebrochen. Doch diesen könne sie inzwischen wieder gut bewegen, Peter Frölich habe gute Arbeit geleistet.
Abreise aus der Antarktis ist für das kommende Jahr geplant
Die Abreise der zehn Überwinterer ist derzeit für den 25. Januar 2024 geplant, zuvor kommen Ende Oktober die anderen Wissenschaftler an und Mitte Dezember die Neu-Üwis. Und dann gibt es auch wieder Salat, Gurken, Tomaten und Äpfel.
Wie es für sie anschließend weitergeht, weiß die Wissenschaftlerin, die einen Zweijahresvertrag hat, noch nicht. Auf jeden Fall will sie erst mal Urlaub machen. Und falls sie wieder über Südafrika zurückfliegt, diesmal etwas vom Land sehen und Sonne tanken. „Und danach ankommen in Deutschland, Freunde wiedersehen. Vielleicht auch erst mal wieder ein bisschen resozialisieren, nachdem ich so lange mit neun anderen hier war.“