Hamburg. Wer starb an und wer mit dem Coronavirus? Wie wirken die Impfungen? Eppendorfer Experten leiten eine neue bundesweite Forschungsgruppe.
Wie breiten sich Viren im menschlichen Körper aus? Welche sind auch am oder im Leichnam noch nachzuweisen? Und inwieweit spielt eine Infektion mit dem Coronavirus heutzutage noch eine Rolle, wenn Menschen versterben? Diese und viele andere Fragen sind in der Medizin überaus relevant. Und sie gehen jeden an, wie der Verlauf der Corona-Pandemie und ihre Aufarbeitung zeigt. Wer starb an, wer mit Corona? Welches Ausmaß haben Long Covid oder Post-Vac, also mutmaßliche Impfschäden, die durch die Corona-Spritzen hervorgerufen worden sein könnten?
Eine neuartige, deutschlandweite Bündelung von Erkenntnissen aus Obduktionen soll Antworten liefern. „Dem Ideenreichtum sind keine Grenzen gesetzt“, sagt der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE in Hamburg, Prof. Benjamin Ondruschka. Der Experte ist einer der Koordinatoren, die jetzt das Nationale Obduktionsnetzwerk (Naton) auf den Weg gebracht haben – ein Netzwerk mit überregionaler Auswirkung. Es ist so bedeutsam, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) es finanziell fördert.
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Corona Hamburg: Was UKE-Rechtsmediziner an Leichen herausfanden
Neu ist, dass jetzt alle Institute mehrerer Fächer faktisch am selben Strang ziehen. So könnten etwa bundesweit Infektionskrankheiten systematischer erfasst und untersucht und damit die Pandemieforschung und Patientenversorgung verbessert werden. „Die Corona-Pandemie hat nochmals eindrucksvoll verdeutlicht, wie wichtig Ergebnisse aus Obduktionen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und die passgenaue Versorgung von Patientinnen und Patienten sind“, sagt Prof. Dr. Blanche Schwappach-Pignataro, Dekanin der Medizinischen Fakultät und Vorstandsmitglied des UKE.
Koordiniert wird Naton von den Universitätskliniken Hamburg und Aachen. An dem Verbund sind 33 rechtsmedizinische, pathologische und neuropathologische sowie weitere nicht universitäre Partner beteiligt. Auch zwei österreichische Zentren sind jetzt neu angeschlossen. Die Zentren übermitteln die Ergebnisse aus Obduktionen bei pandemisch bedingten Todesfällen an das Nationale Obduktionsregister (Nareg) zur Kategorisierung und Analyse.
Obduktionen am UKE: Tote hatten Corona, Rhinoviren und Influenza
„Wir verstehen nur dann, was mit dem menschlichen Körper passiert, wenn wir die schlimmsten Verläufe – und das sind die Sterbefälle – gut verstanden haben“, erläutert Ondruschka. „Die Obduktion ist eine einzigartige Gelegenheit, die Auswirkungen einer Erkrankung auf den ganzen Körper eines Menschen zu sehen. Das Miteinander unserer Fachdisziplinen in Naton sichert eine besondere und bis zur Pandemie nicht in dieser Form vorgehaltene gemeinsame Expertise in der Bewertung von pathophysiologischen Prozessen, detaillierten Organbefunden bis hin zum letalen Mechanismus.“
So gelinge es jetzt, bei Covid und vielen anderen Infektionskrankheiten, eine tiefgreifende Expertise zu ermöglichen. Beispielsweise seien nach der Influenza-Welle Anfang dieses Jahres Untersuchungen an Toten vorgenommen worden, wie es dies „in dieser Systematik noch nicht gab“, erklärt der Rechtsmediziner. Bei rund 7500 Rachenabstrichen von Verstorbenen, die auf mehrere Viren getestet wurden, ergab sich unter anderem, dass allein im Februar dieses Jahres von 111 untersuchten Toten in Hamburg zwölf mit Sars-CoV-2 und vier mit dem Rhino/Enterovirus infiziert waren. Im März waren bei 140 obduzierten Verstorbenen noch 17 mit Sars-CoV-2, 14 mit dem Rhino/Enterovirus und einer mit Influenza B infiziert.
Corona-Tote: Das Sterberisiko sinkt durch die Impfungen
Während der Corona-Pandemie kam die emotional geführte Debatte auf, ob die Covid-Toten an oder mit Corona gestorben waren. Ob also das Coronavirus ursächlich für den Tod war – oder bei Verstorbenen lediglich zusätzlich ein positiver Corona-Test vorlag.
In einer frühen Studie, die sich auf Obduktionen in Deutschland bezog und die im Fachmagazin „The Lancet Regional Health Europe“ veröffentlicht wurde, hieß es: Von 1095 untersuchten Fällen waren 86 Prozent an oder wegen Corona gestorben, 14 Prozent mit einem positiven Befund. Rund ein Viertel davon wurde in Hamburg am UKE obduziert.
Allerdings waren das Infizierte aus den ersten Monaten der Pandemie bis zum Oktober 2021. Zu dem Zeitpunkt gab es erst rund zehn Monate Impfungen, die dritte oder Booster-Impfung war noch nicht weit verbreitet. Was die Daten aber schon zeigten: Vor allem Ältere traf das Coronavirus tödlich, ebenso Menschen mit erheblichen Vorerkrankungen wie Herz- und Lungenschwächen oder einem nicht voll funktionsfähigen Immunsystem.
Im Verlauf der Pandemie zeigte sich dann, dass die Impfungen entscheidend dazu beitrugen, das Sterberisiko einer Infektion auch für Ältere und Menschen mit Risikofaktoren zu senken. Zwar entwickelten sich besorgniserregende und sogar ansteckendere Varianten des Coronavirus wie Delta oder Omikron. Doch die später weiterentwickelten Impfstoffe hielten sie vergleichsweise gut in Schach.
Nur drei der geimpften Toten waren keine Risikopatienten
Ondruschka und seine UKE-Mitstreiter wie Prof. Marylyn Addo oder Prof. Stefan Kluge veröffentlichten später im Ärzteblatt eine Untersuchung zu 227 Sterbefällen. Hier zeigte sich, dass von ihnen 154 an Corona gestorben waren und nicht geimpft waren. Von allen an Corona Gestorbenen waren zwar 22 geimpft oder geboostert, hatten allerdings weitere Risikofaktoren. Nur drei untersuchte Todesfälle waren geimpft oder geboostert und hatten keinen offensichtlichen Risikofaktor. Diese Toten waren im Schnitt über 60 Jahre alt.
Von den ersten Corona-Varianten wie Alpha bis hin zu Omikron zeigt sich, dass mit Pandemie-Fortschritt immer weniger Patienten an als mit Corona versterben. Das spricht für eine gute Immunisierung der Bevölkerung. Ondruschka und Co. schrieben zudem: „Diese Ergebnisse unterstreichen die gute Wirksamkeit der zugelassenen Covid-19-Impfstoffe in Bezug auf ihre Fähigkeit, tödliche Verläufe zu verhindern.“ Wer geimpft und ohne Risikofaktor sei, habe nahezu null Risiko, an Corona zu sterben.
Nachweisbare Impfschäden? Das sagt der UKE-Rechtsmediziner
Vor allem in den sozialen Medien machen sich derzeit immer mehr Impfskeptiker bemerkbar, die von großen Zahlen von Impfschäden berichten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat angekündigt, die Fälle untersuchen zu lassen, die dokumentiert sind. Dabei geht es nicht um Impfreaktionen wie schmerzende Arme, Fieber oder Müdigkeit, sondern um anhaltende gesundheitliche Beeinträchtigungen, die unmittelbar auf eine Impfung zurückgehen. Das können theoretisch Herzerkrankungen oder Thrombosen sein.
Das Paul-Ehrlich-Institut zählte bis Mitte 2022 insgesamt 120 Fälle von Toten, bei denen ein Zusammenhang mit einer Corona-Impfung „wahrscheinlich“ oder „möglich“ war. Bei mehr als 192 Millionen Impfungen ist das eine kleine Zahl. Für die Angehörigen ist das jedoch schmerzlich. Ondruschka sagte: „In Naton werten wir gerade die objektiven Daten aus den Obduktionen dazu aus. Aus unseren eigenen Obduktionen im UKE kann ich sagen: Nur in singulären Einzelfällen sahen wir kausale Verläufe.“
Zu ansteckend: Lassafieber seit 1970 nicht postmortal untersucht
Welche Bedeutung das Netzwerk Naton hat, zeigte sich jetzt auch bei einem Kongress von Experten aus der ganzen Bundesrepublik in Hamburg. Rechtsmediziner, Neuropathologen und Pathologen stellten einige ihrer Forschungsergebnisse den Fachkollegen vor. Es seien rund 170 Publikationen in drei Jahren zusammengekommen, erzählt Ondruschka und spricht von einem „unglaublichen Impact. Die Struktur erlaubt es, dass wir mit einem Tastendruck die Daten aller Institute nutzen können.“
Wertvolle Erkenntnisse ergäben sich neben Infektionsverläufen ebenso bei seltenen Erkrankungen und Infektionskrankheiten, betont der Chef der Hamburger Rechtsmedizin. Als Beispiel nennt Ondruschka die Hirnentzündung durch das Borna-Virus oder das Lassafieber, das in sehr vielen Fällen tödlich verlaufe. „Das Lassafieber ist so ansteckend, dass es seit 1970 nicht mehr postmortal untersucht wurde“, berichtet der Experte. „Die Leute sterben, zum Teil an Nierenversagen.“ Aber wie genau die Krankheit tödlich verlaufe, sei bis heute nicht bekannt. „Hier können wir auch unser Netzwerk nutzen, um die Verständniskette auszuarbeiten.“
Arbeit der Pathologen und Rechtsmediziner mehr als Routine
Wichtig sei bei Naton ebenfalls, dass die Fächer Rechtsmedizin, Pathologie und Neuropathologie ihre Erkenntnisse einander zugänglich machen und nutzen können. Diese Kooperation sei deshalb besonders wichtig, weil Pathologen und Rechtsmediziner einen unterschiedlichen Blick auf die Sterbefälle haben.
Während Rechtsmediziner unklare Sterbefälle untersuchen, in Krankenhäusern und von außerhalb, widmen sich die Pathologen den hospitalen Fällen mit natürlichem Tod. Durch die Kooperation sei eine „Struktur geschaffen worden“, so Ondruschka, „die einen möglichst breiten Blick auf die Sterbefälle mit besonders modernden Untersuchungen weit über die Routinearbeit hinaus wirft.“