Mehr als 60 Geschäfte im Grindelviertel wollen mit verhängten Schaufenstern auf drohendes Ladensterben aufmerksam machen. Den Geschäftsleuten reicht’s.
Hamburg. Kunden, die im Laden ungeniert Produkt und Artikelnummer fotografieren und die Ware dann beim Internethändler bestellen. Warensendungen, die der Paketdienst im Geschäft abgibt, weil die Nachbarn nicht zu Hause sind – und die nicht nur Platz, sondern auch Umsatz wegnehmen, weil sie eben das enthalten, was online und nicht beim Einzelhändler um die Ecke gekauft wurde. Den Geschäftsleuten aus dem Grindelviertel reicht’s.
Mit einer in Hamburg bislang einmaligen Protestaktion wollen sie auf ihre Misere aufmerksam machen. Am kommenden Donnerstag werden mehr als 60 Einzelhändler ihre Geschäfte mit Packpapier und Plakaten verhängen – nach dem Motto: So sieht es im Viertel aus, wenn alle nur noch im Internet kaufen. Außerdem wollen sie die ganze Woche lang die Annahme von Paketen für Kunden aus der Nachbarschaft verweigern.
„Wir sehen die rückläufigen Umsätze und den Verlust unserer Kunden an die Konkurrenz aus dem Internet mit großer Sorge“, sagt Jimmy Blum vom Verein Grindel e.V. Blum betreibt in der Hartungstraße seit 13 Jahren den Secondhand-Laden „Jimmy“ und hat die Aktion initiiert. Man werde nur noch als Showroom oder Packstation missbraucht, sagt er und weist auf drei Pakete, die unterhalb des Schaufensters liegen; manchmal stapeln sich dort bis zu zehn Sendungen. Vor einigen Wochen hat Blum die Gewerbetreibenden aus dem Viertel auf diesen Missstand aufmerksam gemacht und sie für die Protestaktion mobilisiert.
„Durch diesen Brief ist mir erst bewusst geworden, dass wir Einzelhändler uns mit der Paketannahme ja quasi selber köpfen“, sagt Ursula Kemna von der Boutique „Casablanca“, die ebenfalls regelmäßig Pakete für Hausbewohner bei sich lagert. Diese Freundlichkeit werde aber nicht damit belohnt, dass die Nachbarn auch mal bei ihr kaufen, so die Geschäftsfrau, deren Umsätze seit einiger Zeit stagnieren. Deshalb verweigert sie künftig die Annahme von H&M-, Zara- oder Amazon-Paketen.
Auch bei Susan Klindtwordt, die am Grindelhof Bekleidung und Wohnaccessoires verkauft, sind die Umsätze in den vergangenen beiden Jahren um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen. „Das ist ja auch kein Wunder“, sagt sie. „Die Milliardengewinne der Internethändler fehlen uns Einzelhändlern.“ Ihre Kundschaft sei immer sehr gemischt gewesen, sagt Klindtwordt, die mit ihrem Laden seit den 80er-Jahren am Grindelhof sitzt. Mittlerweile kauften nur noch Ältere bei ihr ein; Jüngere würden sich meistens nur informieren und die Ware im Internet bestellen. Dass das Spaß macht, kann sie sich nicht vorstellen. „Einkaufen sollte ein sinnliches Erlebnis sein.“ Damit habe das Kaufen per Mausklick und das Abholen an einer Packstation doch nichts zu tun.
Dafür geht es einfach. Und ist billiger, denn im elektronischen Handel fallen nicht die hohen Personal- und Mietkosten an wie im Einzelhandel. Außerdem gibt es moderne Paketdienste, die kundenorientiert gern auch dreimal kommen oder abends, wenn die Empfänger zu Hause sind. Dass die Kunden das schätzen, zeigen die Zuwachsraten des Internethandels. Nach einer Studie des Kölner Instituts für Handelsforschung (ifH) hat sich der Umsatz des Internethandels in Deutschland in den vergangenen acht Jahren von acht auf fast 32 Milliarden Euro vervielfacht.
Einzelhändler am Grindel haben viel für die Umgestaltung des Viertels getan
Nach Angaben des Bundesverbandes des Deutschen Versandhandels (bvh) betrug der Anteil des Onlinegeschäfts im deutschen Einzelhandel 2011 insgesamt 8,2 Prozent, im ersten Drittel 2013 bereits 8,7 Milliarden Euro. „Das ist ein Plus von 37,3 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres“, sagte bvh-Geschäftsführer Christoph Wenk-Fischer kürzlich. Für das gesamte Jahr 2013 erwartet der Verband einen Umsatz von rund 33,5 Milliarden Euro.
Ebenso bequem wie das Einkaufen per Mausklick ist das Bezahlen: Mit der elektronischen Bezahlmethode PayPal braucht man nur eine E-Mail-Adresse, ein Girokonto und ein Kennwort. Zehn Millionen Onlinekunden zahlen laut PayPal damit täglich in Deutschland. Zehn Millionen Menschen, die nicht in Geschäften einkaufen.
„Support your local dealer“ wollen die Grindel-Händler den Menschen in ihrem Viertel mit ihrer Protest- und Boykottaktion zurufen, „unterstützt den Laden um die Ecke“. „In unserem Viertel gibt es so viele individuelle Läden direkt vor der Haustür“, sagt Jimmy Blum. „Anders als in der Eifel oder im Alten Land ist es hier doch wirklich nicht nötig, im Internet einzukaufen.“
Ungeachtet der Erfahrungen der Grindel-Händler und der steigenden Umsatzzahlen des Onlinehandels spricht Wolfgang Linnekogel vom Einzelhandelsverband Nord nicht von einer Bedrohung durch das Internet. „Eine große Studie hat kürzlich ergeben, dass sich die Menschen im Netz nur über die Produkte informieren, sie dann aber in den Geschäften kaufen“, sagt er. Er empfiehlt allen Einzelhändlern, die Internet-Vorliebe ihrer Kunden zu nutzen, sich eine gute, informative Website anzulegen um damit die Kunden zu einem Besuch ihres Ladens zu animieren.
Das haben die Grindel-Händler schon lange getan. Jeder Einzelne von ihnen stellt sich unter www.grindel.de ausführlich vor und macht Lust auf einen Bummel durchs Uni-Viertel. Die Umgebung wurde von den ansässigen Einzelhändlern kräftig mitgestaltet. Sie haben Straßenfeste, Floh- und Wochenmärkte organisiert, sich dafür eingesetzt, dass der Hallerplatz umgestaltet wird und dass der Brunnen am Bornplatz wieder sprudelt, sie sind serviceorientiert und preisgünstig. „Wenn es uns nicht mehr gibt, ist das Viertel weniger bunt“, sagen die Grindel-Händler. Am Donnerstag kommender Woche, wenn die Geschäfte hinter Packpapier verschwinden, wird das unübersehbar sein.