Hamburg. Wo ist es in Hamburg am schönsten? 50 leidenschaftliche Plädoyers. Teil 46: Gentrifizierung und Snacks für Obdachlose.

Anne von Hartmann und Ute Henrich haben einen Ausflug in ihr Sehnsuchtsviertel gemacht. Die beiden erzählen, dass sie unisono nach dem Aussteigen am U-Bahnhof Hallerstraße gesagt hätten: „Ah, endlich wieder zu Hause.“

Ich treffe zwei ehemalige Bewohnerinnen, die sich ihr Viertel nicht mehr leisten können. Anne wohnte als alleinerziehende Mutter mehr als 30 Jahre lang mit ihrer Tochter in einer der idyllischen Grindelhof-Terrassen, vier Zimmer, 70 Quadratmeter, Ofenheizung, Ende der 80er für eine Miete von 370 Mark. Bevor sie dann nach der Modernisierung des Hauses vor drei Jahren auszog, waren es 850 Euro – zu viel für sie.

„Kürzlich sah ich, dass die Wohnung für 550.000 Euro zum Verkauf angeboten wurde“, erzählt sie. Ute ist in der Nachbarschaft aufgewachsen. Lange her, aber unvergessen. „Ich habe nur positive Erinnerungen, das Viertel hatte selbst in den Nachkriegsjahren besonderes Flair. Viele kleine Geschäfte, die Menschen lebten eng beieinander, Studenten sorgten für etwas Exotik.“

Kultureller Reichtum und Toleranz einer weltoffenen Gesellschaft in einer Nussschale

Der Grindel mag das Herz des Stadtteils sein, doch repräsentativ für Rotherbaum ist er ebenso wenig, wie es diese beiden Stimmen sind.

Doch es gehört zum Wesen des bunten Stadtteils, dass sich lokale Verschiedenheiten und Eigenarten seiner fast 17.000 Bewohner zu einem stimmigen Ganzen fügen, zu dem auch die vielen täglichen Besucher beitragen, die hier arbeiten, studieren, flanieren sowie Restaurants und Kultureinrichtungen beleben. Das Geheimnis lautet: lebendige Vielfalt. Hier zeigen sich kultureller Reichtum und Toleranz einer weltoffenen Gesellschaft gewissermaßen in einer Nussschale.

Historisches Entree ist der Bahnhof Dammtor. Im 19. Jahrhundert wurde das Park- und Gartenvorland „but’n Dammtor“ an den Hauptverkehrsadern Ro­thenbaumchaussee und Mittelweg entlang bebaut. Rotherbaum und Nachbarin Harvestehude wurden erst 1894 offiziell zu Stadtteilen. Großzügige Empfangshalle ist die Moorweide, ehemaliges Exerzierfeld, heute eine von alten Bäumen gesäumte Parkwiese.

Der Dammtorbahnhof am Theodor-Heuss-Platz - das historische Entree in den Stadtteil.
Der Dammtorbahnhof am Theodor-Heuss-Platz - das historische Entree in den Stadtteil. © Klaus Bodig / HA

Dahinter das Alstervorland, an das Villen und großbürgerliche Wohnhäuser anschließen. Enger wird es in den Straßen am Grindel, ebenso am westlichen Ende um die Bundesstraße herum bis zum Schlump. Grundsätzlich gilt im 2,7 Quadratkilometer großen Rotherbaum: je dichter an der Alster desto teurer.

Werner Grassmann hat das Abaton am Grindel 1970 eröffnet

Eine der Stimmen im Chor derjenigen, die das Lebensgefühl hier preisen, ist Werner Grassmann. Der Gründer des Abaton-Kinos kennt das Grindel-Viertel seit den 30er-Jahren, seine Großeltern wohnten in der Rappstraße.

Grassmann hat den Wandel intensiv erlebt, als er 1970 das Abaton eröffnete. Was als Abenteuer mit geliehenem Geld, Nouvelle Vague und Jungem Deutschen Film begann, ist längst ein solides, stets für sein Programm ausgezeichnetes Geschäft. Der einst mittellose Filmemacher hat das frühere „verlotterte“ Garagengebäude kürzlich von der Stadt gekauft und das Abaton an zwei Söhne übergeben.

Über seinen Start in den wilden 70ern sagt er: „Wir hatten viele Filmemacher zu Gast, die haben sich schlecht benommen, das war wunderbar.“

Rotherbaum: Das sind die Fakten

  • Einwohner: 16.875
  • Davon unter 18: 2252
  • Über 65: 2681
  • Durchschnittseinkommen: 68.191 € (2013)
  • Fläche: 3,0 km²
  • Anzahl Kitas: 16
  • Anzahl Schulen: 1 Grundschule
  • Wohngebäude: 1206
  • Wohnungen: 10.023
  • Niedergelassene Ärzte: 137
  • Straftaten im Jahr 2018: Erfasst: 1646; Aufgeklärt: 508

Am Durchgang zwischen Wiwi-Bunker und Staats- und Universitätsbibliothek treffen Gegensätze heutigen Studentenlebens aufeinander. Auf der einen Seite feiert die Orientierungseinheit für Studenten der Betriebswirtschaftslehre beim Beer Pong, einem feucht-fröhlichen Trinkspiel, auf der anderen können die Neulinge durch die Fenster eines Stabi-Lesesaals einen Blick auf ihre Zukunft werfen: Dort sitzen lauter brav arbeitende Einzelkämpfer.

Die Uni ist hier das Wachstumsprojekt. An der Bundesstraße entstehen zahlreiche Neubauten. Auch das von Weinranken geschmückte alte Fernmeldegebäude an der Schlüterstraße wird mit einbezogen. Gut möglich, dass die Uni, die noch immer wie eine Insel im Stadtteil wirkt, endlich zu einem großen Campus zusammenwächst.

Im Café Leonar gibt es das zweitbeste Hummus der Welt – nach Tel Aviv

Veränderung wird sichtbar, auch Gentrifizierung, dennoch fällt viel Beständiges auf. Der Grindelhof ist nicht mehr Sammelsurium kleiner Geschäfte, eher Gastromeile, aber Namen wie Arkadasch, Etrusker und der Modeladen Casablanca sind altvertraut. Neu etablieren kann sich, wer eigen und gut ist, so wie Otto’s Burger und das Eiscafé Luicella’s.

Aus dem Stand heraus funktionierte das 2008 eröffnete Café Leonar, das an die jüdische Geschichte des Viertels anknüpft und diese zeitgemäß interpretiert. Aliyas Karimi ist Iraner, er hat das jüdische Café von Sonja Simmenauer und Sohn Arnold übernommen und führt das Lokal mit seinen vielen Stammgästen aus der Nachbarschaft im Sinne der Gründer weiter.

Jüdische Identität soll erkennbar sein — doch Weltoffenheit ist Programm, in der internationalen Besetzung des Personals und in der Küche, die „levantinisch, Middle East“ sei, wie Karimi sagt. Kellner Mattan, Student aus Israel, bestätigt die Qualität: „Hier gibt es das zweitbeste Hummus der Welt – gleich nach Tel Aviv.“

Szenenwechsel. Das Viertel um den Mittelweg herum mit gepflasterten Nebenstraßen, pompösen Villen, zauberhaften Gängen und adretten Fassaden in Pöseldorf ist wohlhabendes Quartier, partiell aber auch lebendiger Kiez. Am Mittelweg behauptet sich ein Mix von Geschäften, vom Schuhmacher bis zum Schreibwarenladen. Im Hinterhof großbürgerlicher Häuser existiert noch eine Autowerkstatt, der Imbiss „Bagel Pösel“ lädt Obdachlose zu kostenlosem Kaffee plus Snack ein.

Moorweide: Früher Exerzierplatz, heute eine große Wiese mit altem Baumbestand.
Moorweide: Früher Exerzierplatz, heute eine große Wiese mit altem Baumbestand. © Klaus Bodig

Für einen Stadtvillenbewohner aus der Johnsallee, der anonym bleiben will, ist dieser Teil von Rotherbaum der perfekte Standort. „Ich dachte, ich ziehe ins Niemandsland, als ich aus Eppendorf hierher kam. Doch es gibt fußläufig fast alles, Märkte, Läden, Restaurants, Museen, ein Theater, ein Kino, Hotels, sogar einen Bahnhof mit ICE-Anschluss, und mit dem 109er einen Bus direkt in die Innenstadt. Wir wohnen citynah, aber im Grünen und sehr ruhig“, sagt er. „Kennen Sie eine Großstadt, wo es so etwas noch gibt?“

Rotherbaum: Das sind die Highlights

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1. Uni-Sportpark

Manche behaupten, sie hätten die schönsten Momente ihres Studiums hier verbracht. Insbesondere der penibel gepflegte Rasenplatz, nach dem früheren Platzwart Gustav Stuhlmacher benannt, hatte es Fußballern angetan. Heute ist der Zugang zum Platz (jetzt Kunstrasen) eingeschränkt, es empfiehlt sich die Mitgliedschaft im Asta-Breitensport (auch für Externe).

2. Sammlungen der Uni

Stadtteilserie: Zoologisches Museum

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    Eher unbekannte Schätze sind die Sammlungen der Universität. Das Zoologische Museum (Bundesstraße 52, Di–So 10–17 Uhr) zeigt lebensechte Tierpräparate, das Geologisch-Paläontologische Museum (Bundesstraße 55, Mo–Fr 9–18 Uhr) Fossilien, das Mineralogische Museum (Grindelallee 48, So 10–17, Mi 10–18 Uhr) Edelsteine und -metalle. Der Eintritt ist frei.

    3. Alstervorland

    Das westliche Vorland der Außenalster teilt sich Rotherbaum mit Harvestehude. Der Parkstreifen zwischen Gewässer und Villenviertel ist beliebte Laufstrecke und wunderschöner, gelegentlich übervoller Spazierweg. Zur Einkehr empfohlen: Bodos Bootssteg am Anleger Rabenstraße und auf dem Rückweg Luigi Ballarins Eiscafé Il Gelato am Mittelweg 29.