Hamburg. Kurt und Volker Schröder lebten damals mit ihrer Familie am Alten Landweg in Moorfleet. Die jüngste Schwester wäre fast ertrunken.
Eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes erschütterte Hamburg vor 60 Jahren: In der Nacht von Freitag, 16. Februar, auf Sonnabend brachen 1962 bei einer schweren Sturmflut an mehreren Stellen die Deiche. Auch Teile von Ochsenwerder, Billwerder, Allermöhe und Moorfleet wurden überflutet. In Hamburg starben 315 Menschen, die meisten von ihnen im besonders schwer betroffenen Wilhelmsburg. In den Marschlanden leben noch zahlreiche Augenzeugen der Katastrophe.
Kurt Schröder aus Ochsenwerder war in der Nacht, als das Wasser kam, 19 Jahre alt. Er lebte mit seinen Eltern, seinem Bruder Volker, damals elf, und seinen Schwestern (17, 18) am Alten Landweg 28 in Billwerder, dicht am S-Bahnhof Billwerder-Moorfleet. „Mein Vater war Allgemeinmediziner, hatte seine Praxis im Haus“, sagt Kurt Schröder. Nebenan, ebenfalls im Erdgeschoss gelegen, befand sich das Zimmer des 19-Jährigen. Dort weckte ihn gegen 2 Uhr nachts seine Mutter. „Wir blickten auf die Straße und sahen im Licht einer Gaslaterne, wie unsere Straße überflutet wurde. Das rauschte wie ein Gebirgsbach.“
Sturmflut 1962: Das Wasser im Haus war plötzlich 2,20 Meter hoch
Das Wasser sei vom übergelaufenen Moorfleeter Kanal aus zwischen Bahndamm und Bahnhof auf den Alten Landweg gelaufen. „Wir sind dann schnell ins erste Stockwerk geflüchtet“, sagt der 79-Jährige. Noch in der Nacht sei unten die große gläserne Front des Hauses zum Garten hin zersprungen. „Vorher plätscherte das Wasser lediglich durch die Haustür“, erinnert sich Kurt Schröder. Sein Bruder ergänzt: „Bis die Scheibe sprang, hatten wir das Gefühl, in ein riesiges Aquarium zu schauen.“ Doch dann lief das Wasser plötzlich ins Haus. „In den Räumen im Erdgeschoss stand es schnell 2,20 Meter hoch“, sagt der ältere Bruder.
Vom ersten Stock aus beobachtete die Familie durchs Fenster, wie der Bahndamm brach, „direkt vor unserem Haus“. Wassermassen strömten auf das Gelände des Kleingartenvereins Billbrook, berichtet Kurt Schröder. „Das Wasser schoss durch das nächstgelegene Behelfsheim, ein großes Holzhaus, von dem nur die Längswände stehenblieben. Durch die Öffnung des Damms wurden Autos von der Straße gespült.“ Der vor dem Zweiten Weltkrieg errichtete Bahndamm sei nie fertiggestellt worden, weiß Kurt Schröder. „Nach der Flut wurde er von Baggern abgetragen.“
Einige medizinische Geräte und die Patientenkartei konnten gerettet werden
Nach dem Dammbruch sei der Wasserstand auf der Straße und im Haus der Familie Schröder gesunken. „Das Wasser hatte sich in der Marsch verteilt.“ Die Familie habe wochenlang im ersten Stockwerk gelebt. „Dort hatten wir eine funktionierende Gasheizung. Außerdem waren die unteren Räume ja verwüstet.“ Das Haus sei wochenlang mit Bautrocknern bearbeitet worden.
In der Praxis seines Vaters sei vieles zerstört worden. „Einige medizinische Geräte und die Patientenkartei konnten wir allerdings vor den Wassermassen retten.“ Die Praxis war sechs Wochen lang geschlossen, konnte dann, nach erfolgreicher Trocknung, wieder geöffnet werden. Viele Geräte mussten ersetzt werden. „Es gab 70.000 Mark Entschädigung von der Stadt, für das Haus und die Geräte. Das war ein großes ,Verlustgeschäft’“, sagt Kurt Schröder.
„Damals hatten wir hier wochenlang Ebbe und Flut“
Bei der Rettungsaktion wäre die jüngere Schwester fast ertrunken: „Sie war durch den Wasserdruck gegen die Zwischentür plötzlich in dem Raum eingeschlossen. Nur mit äußerster Kraft gelang es meinem Vater und mir, die Tür aufzuziehen und meine Schwester zu befreien. Wir standen hüfthoch im Wasser“, sagt Kurt Schröder.
Die Gegend um das Haus der Schröders stand komplett unter Wasser. Hunderte Behelfsheime befanden sich damals vor allem auch auf der Rückseite in Richtung Tiefstack. „Nur an unserer Straße standen solide, höher gelegene Häuser – und wir hatten plötzlich eine Insellage“, sagt Volker Schröder. „Damals hatten wir hierwochenlang Ebbe und Flut – auch in unserem Haus.“
Damals lebten hier 35.000 Menschen
Er bewohnte damals ein Kinderzimmer im ersten Stockwerk, so wie seine Schwestern, die sich ein Zimmer teilten. Als die Flut kam, zog sein älterer Bruder mit bei ihm ein. Für ihn sei die Flutkatastrophe „ein großes Abenteuer“ gewesen, erinnert sich Volker Schröder. Mit seinem Bruder habe er damals den Nachbarn geholfen und für sie per Schlauchboot Gegenstände aus ihren gefluteten Behelfsheimen geholt.
Diese Hütten seien in den folgenden zehn Jahren fast alle abgerissen worden, um Platz für Industrie und Gewerbe zu schaffen. „Damals haben hier, zwischen Billstedt, Mittlerer Landweg und Grusonstraße in Billbrook, rund 35.000 Menschen gelebt. Viele von ihnen waren Patienten unseres Vaters“, weiß Kurt Schröder. „Heute leben hier bloß noch einige Hundert Menschen.“