Hamburg. Vor bald 50 Jahren wurde Hamburg von einer heftigen Sturmflut überschwemmt. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 brechen 61 Deiche. 315 Menschen sterben in den Fluten, Tausende verlieren Hab und Gut. Die „bz“ erinnert an die Katastrophe. Erster Teil: Die Chronologie der Schreckensnacht.

Freitag, 16. Februar 1962: Seit Tagen ist das Wetter stürmisch. Doch jetzt braut sich ein Orkan zusammen, der von Island direkt auf die deutsche Nordseeküste zurast. 8.45 Uhr: Das Deutsche Hydrographische Institut (DHI) warnt vor einer schweren Sturmflut an der Nordseeküste.

11.45 Uhr: Die Feuerwehren sind alarmiert. Rolf Stubbe (34), Zugführer der FF Moorfleet, wohnt direkt hinterm Moorfleeter Deich. Dass seinem Hof viel passieren könne, glaubt der Gärtner nicht. Sein Wohnhaus liegt auf einer Warft. Selbst wenn der Deich überspült würde, läuft das Wasser ums Haus herum ab, glaubt er. Seine Gerätschaften bringt er aber doch lieber in Sicherheit.*

13 Uhr: Immer wieder wird übers Radio vor einer sehr schweren Sturmflut gewarnt, die in der Nacht die Nordseeküste treffen soll. Das Fischereischutzboot „Meerkatze“ befindet sich mitten in der Nordsee und meldet Windstärke 11. Das Fatale: Der Sturm drückt das Wasser der Nordsee in die Deutsche Bucht. Die Nachmittags-Ebbe kann nicht ablaufen, wodurch sich auch das Wasser der Elbe immer höher aufstaut. Doch noch erkennt niemand die Gefahr für Hamburg.

17.30 Uhr: Die FF Moorfleet ist der Einsatzreserve zugeteilt. Die Feuerwehrleute beobachten vom Deich die unruhige Elbe.19 Uhr: Der Orkan „Vincinette“ fegt nun mit Windstärke 12 über die Nordsee. 21 Uhr: Das DHI befürchtet Wasserstände bis fünf Meter über Normalnull (NN). Alarmstufe III wird für die Deichverteidigung ausgerufen. 22.30 Uhr: Der Pegel der Elbe steigt auf 2,60 Meter über NN. 15 Minuten später sind es schon 2,85 Meter.

23 Uhr: Nachdem das Wasser der Elbe nicht abfließen konnte, folgt nun die nächste Flut. Sie lässt den hohen Wasserstand weiter ansteigen. Langsam ahnen die Verantwortlichen, was da auf Hamburg zurollt und verhängen den Ausnahmezustand. Sandsäcke werden herangeschleppt, um die Deiche zu schützen. Tausende werden allein am Ochsenwerder Elbdeich abgeladen. Er wird überspült und erheblich beschädigt. Aber er bricht nicht.

23.45 Uhr: Fast überall heulen jetzt die Sirenen. Auch in Moorfleet. Auf dem Weg zur Tatenberger Schleuse sehen die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr, dass das Wasser schon über die Deiche peitscht. Am Holzhafen fliegen die Duckdalben über den Deich. Es ist gefährlich, jetzt draußen unterwegs zu sein. Das Wasser des Moorfleetkanals tritt über die Ufer. Bei Grube wird der Moorfleeter Deich langsam undicht.

Sonnabend, 17. Februar, 0.20 Uhr: Nicht nur in Moorfleet eilen die Feuerwehrleute nun von Haus zu Haus, um die Anwohner zu warnen. Auch im Hafengebiet und in Finkenwerder versucht man, die Schlafenden mit Böllerschüssen in die Luft zu wecken. Die Kommunikation unter den Helfern ist schlecht. Telefone sind besetzt, der Funkverkehr chaotisch, die Hauptnachrichtenstelle der Feuerwehr in St. Georg nicht zu erreichen.?0.30 Uhr: Dann kommt das Wasser! In Finkenwerder, Wilhelmsburg, Moorburg und Moorfleet läuft es über die Deiche. An der alten Süderelbe bei Neuenfelde gibt der Schutzwall nach – der erste von 61 Deichbrüchen, die nun im Minutentakt erfolgen.

Die meisten Hamburger liegen immer noch im Bett. Sie haben sich von der Sturmflutwarnung nicht angesprochen gefühlt. Es wurde immer nur von der Nordseeküste gesprochen. Doch nun begreifen alle – auch die Behörden: Es geht um Leben und Tod. Kraftwerke werden überflutet. Strom und Telefon fallen aus. Am Wilhelmsburger Spreehafen bricht der Deich. Die flache Elbinsel ist im Nu überflutet. 207 Menschen sterben hier.

2 Uhr: Bei der Schiffswerft Grube gibt der Moorfleeter Deich nach. Ein ohrenbetäubender Knall schreckt Dieter Riege (22) und seine Familie auf. Die vordere Hälfte seines reetgedeckten Elternhauses am Moorfleeter Kirchenweg ist zusammengebrochen. Dem Ansturm des Wassers, das durch eine zweite Bruchstelle des Deiches rauscht, hat es nicht lange standgehalten. Erst am Nachmittag werden sie aus dem zerstörten Haus geborgen. Bei Rolf Stubbe fließt das meiste Wasser am Haus vorbei, dringt aber auch langsam unter der Tür in den Hausflur.

3.07 Uhr: Wie Familie Riege sind 100.000 Menschen nun vom Wasser eingeschlossen. Die Flut erreicht ihren Höhepunkt bei 5,70 Meter über NN. Jens, Peter und Klaus Busch werden in Moorfleet aus dem Schlaf gerissen. Die Polizei fordert alle auf, ihre Häuser zu verlassen. Während die meisten Menschen noch ungläubig dastehen, schießt schon eine Flutwelle vom Fleet her über die Sandwisch. Der Keller im Haus der Busch-Brüder läuft voll. Sie flüchten ins obere Stockwerk.

Ein Moorfleeter kommt in dieser schicksalhaften Nacht um. Ein Sechstel des Hamburger Stadtgebietes steht unter Wasser. 30.000 Hamburger verlieren ihre Wohnung. 315 Menschen sterben.

Mittags beginnt das Wasser zu fallen. Unter Leitung von Hamburgs Polizeisenator Helmut Schmidt startet eine beispiellose Rettungsaktion.

Lesen Sie im zweiten Teil: Kann sich so eine Katastrophe wiederholen? Neue Konzepte für den Hochwasserschutz.

Zeitzeugen gesucht!

Wohl niemand, der von der Sturmflut überrascht wurde, wird die Nacht im Februar 1962 und die Wochen danach je vergessen. Erzählen Sie uns von Ihren Erlebnissen. Waren Sie selbst betroffen oder als Retter im Einsatz? Was ist mit Ihrer Familie geschehen, Ihrem Zuhause? Schreiben Sie uns: Bergedorfer Zeitung, Stichwort: Sturmflut, Curslacker Neuer Deich 50, 21029 Hamburg. Oder senden Sie eine E-Mail an: vierlande@bergedorfer-zeitung.de

*Aus: Alexander Schuller, „Sturmflut über Hamburg“, Heyne-Verlag