Glinde/Melbourne. An ihrem 21. Geburtstag qualifiziert sie sich in Melbourne erstmals für das Hauptfeld der Australian Open. Wie es nun weitergeht.

Nur eine Handvoll Zuschauer hatten sich auf Court 15 des Melbourne Parks eingefunden, als Eva Lys in ihrem Finalspiel der Qualifikation zu den Australian Open auf Victoria Jimenez Kasintseva aus Andorra traf. In der zweiten Reihe der Tribüne des Platzes saß ihr Vater Vladimir, der gleichzeitig Trainer des Tennis-Profis aus Glinde ist. Coachen durfte der frühere Davis-Cup-Spieler der Ukraine seine Tochter während der Partie nicht – das untersagt die WTA, die Vereinigung der professionellen Tennisspielerinnen.

Blickkontakt zwischen beiden aber gab es natürlich immer wieder während des eine Stunde und 39 Minuten dauernden Duells. Und die Ruhe des Papas, der in weißem T-Shirt und gleichfarbiger Baseball-Cap die Partie verfolgte, strahlte auf Eva ab. In schwierigen Matchphasen wie bei einem 0:3-Rückstand im zweiten Satz zeigte sie Nervenstärke und rang Kasintseva am Ende mit 6:3, 6:4 nieder.

Eva Lys: Mit einem Sprung über die Sitzschale eilt der Vater zu ihr

Ein mit ihrer beidhändigen Rückhand auf die Grundlinie geschlagener Ball, den ihre Kontrahentin mit dem Rahmen traf und daher nicht übers Netz bringen konnte, sorgte für die Entscheidung in einer spannenden Begegnung. Lys ballte daraufhin kurz die Fäuste und ging danach auf die Knie. Es schien beinahe so, als könnte die Glinderin ihr Glück kaum fassen. Ausgerechnet an ihrem 21. Geburtstag hatte sie sich erstmals in ihrer Profilaufbahn für das Hauptfeld eines Grand-Slam-Turniers qualifiziert.

Nachdem sie von Kasintseva am Netz zu ihrem Erfolg beglückwünscht worden war, bedankte sich Lys zunächst beim applaudierenden Publikum. Dann fiel sie ihrem Vater in die Arme, der mit einem Sprung über eine blaue Sitzschale zu ihr geeilt war. Anschließend rief sie noch auf dem Platz sitzend ihre Mutter Maria sowie Schwester Lisa Matviyenko, die bis vor Kurzem selbst noch Tennis-Profi war, per Handy an, um ihr Glück mit den Familienmitgliedern zu teilen.

„Der geilste Tag meiner Karriere“: Eva Lys schwimmt auf der Erfolgswelle.
„Der geilste Tag meiner Karriere“: Eva Lys schwimmt auf der Erfolgswelle. © dpa | Frank Molter

„Das war der geilste Tag in meiner Karriere“, sagte Lys nach dem erstmaligen Einzug in das Hauptfeld eines sogenannten Major-Turniers. Im Vorjahr hatte die Glinderin bereits bei den Grand-Slam-Veranstaltungen in Wimbledon und den US Open in New York in der Qualifikation ihr Glück versucht, war aber jeweils gescheitert. In Down Under erfüllte sie sich nun ihren Traum von der Teilnahme an einem der vier bedeutenden Turniere des Jahres. „Für sie freut es mich besonders“, sagte Bundestrainerin Barbara Rittner mit Blick auf einige Verletzungen, die Lys in den vergangenen Jahren immer wieder zurückgeworfen hatten.

Dass die 21-Jährige sich in Melbourne nun äußert souverän durch die Qualifikation kämpfen würde, war nicht unbedingt abzusehen. Denn kurz zuvor hatte sie bei einem kleinem Turnier der ITF-Serie in Australiens Hauptstadt Canberra im Viertelfinale überraschend gegen die 33-jährige Ukrainerin Lessja Wiktoriwna Zurenko in drei Sätzen den Kürzeren gezogen. Mit 15 Weltranglisten-Punkten und einem Preisgeld von lediglich 1543 US-Dollar reiste die Glinderin weiter nach Melbourne.

Reichtümer hat die Glinderin auf der Tennis-Tour bislang noch nicht verdient

„Außer Spesen nichts gewesen“, hätte es für Lys heißen können. Schließlich verschlingen Flug- und Hotelkosten eine Menge Geld. Gerade für Spielerinnen, die nicht in den Top 50 der Weltrangliste stehen und sich bei vielen Turnieren über die Qualifikation für das finanziell lukrative Hauptfeld qualifizieren müssen, ist das ein großes Problem. Lys, aktuell 127 des Klassements, hat sich seit ihrem Profi-Debüt 2016 auch noch keine Reichtümer zusammengespielt. Knapp 140.000 US-Dollar verdiente sie bis jetzt. Nun wird die Spielerin vom Club an der Alster, die im Alter von zwei Jahren mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland flüchtete, mit einem Salär von mindestens 161.400 Dollar nach Hause fliegen. So viel erhält sie für die erfolgreiche Qualifikation sowie die Erstrunden-Teilnahme sicher.

Das Melbourne-Märchen muss für Lys aber noch längst nicht beendet sein, wenn die in Kiew geborene Tennisspielerin ihre Form konservieren kann. Die Qualifikation meisterte die 21-Jährige ohne Satzverlust. Zunächst bezwang sie die Spanierin Rosa Vicens Mas mit 6:3, 6:4, anschließend fegte die Glinderin Alexandra Cadantu-Ignatik (Rumänien) mit 6:4, 6:1 vom blauen Hartplatz.

Nervenstärker als das Tennis-Wunderkind aus Andorra

Besonders beeindruckend war dann jedoch ihr Triumph im Duell mit Kasintseva. Die vier Jahre jüngere Kontrahentin aus Andorra, 2020 Siegerin des Juniorinnen-Wettbewerbs der Australian Open, wird in Expertenkreisen als Tennis-Wunderkind bezeichnet. Und ihr großes Schlag-Repertoire stellte die 17-Jährige im Qualifikations-Finale auch immer wieder unter Beweis. Aber die nicht minder begabte Lys, die im vergangenen Jahr in der deutschen Nationalmannschaft debütierte, spielte konstanter und war in den entscheidenden Phasen des Spiels nervenstärker.

Im ersten Satz schaffte sie beim Stand von 2:1 und 3:2 ein Break, in Durchgang zwei nahm sie ihrer Kontrahentin beim Stand von 1:3 und 3:3 den Aufschlag ab. Dass Lys derart nervenstark agierte, gründet vielleicht auch auf ihrer Zusammenarbeit mit einem Sportpsychologen. „Ich habe irgendwann angefangen, auf den Platz zu gehen, und versucht, nicht an den Gegner zu denken, sondern an mich selbst zu glauben“, sagte sie in einem „WTA“-Interview.

In der ersten Runde trifft sie auf eine spanische Qualifikantin

Selbstbewusstsein gepaart mit Talent und dem Willen, hart an sich zu arbeiten, ist fraglos eine gute Basis für eine erfolgreiche Karriere. Lys, die in den Vorjahren kaum ein kleines Turnier ausließ, um sich nach oben zu kämpfen, scheint bereit für den nächsten Schritt zu sein. Fernab ihrer beschaulichen Glinder Heimat könnte die 21-Jährige zu einem der Shootingstars der Australian Open werden. Zumindest der Einzug in die zweite Runde scheint keineswegs unmöglich für Lys.

Dort trifft sie in der 25-jährigen Cristina Bucsa (Spanien) auf eine Spielerin, die sich ebenfalls über die Qualifikation den Weg ins Hauptfeld ebnen musste. Und sollte Lys diese Hürde nehmen, würden im weiteren Turnierverlauf erst einmal auch nicht die topgesetzten Stars auf sie warten. Nicht ausgeschlossen also, dass Papa Vladimir in der kommenden Woche noch einige Male jubelnd über die eine oder andere Sitzschale springen wird...