Lohbrügge. Pilotanlage ist auf Lohbrügger Hochschulgelände in Betrieb gegangen. Serienreife der intelligenten Abfallverwertung in diesem Jahr?

Es ist der Traum der Verkehrswende – und „made in Bergedorf“: Benzin und Diesel einfach klimaneutral aus Abfällen herstellen. Ebenso wie alle anderen Erdölprodukte auch, bis hin zum Plastik. Und dann auch noch deutlich CO2-neutraler als das fossile Original. Genau diese Technologie beherrscht eine Anlage, die die Forschungsgruppe Verfahrenstechnik der Hochschule für Angewandte Wissenschaft (HAW) Donnerstag an ihrem Campus in Lohbrügge vorgestellt hat.

„Ich hoffe, das Interesse an dieser Technik wird schnell wachsen“, gab sich Forschungsleiter Prof. Thomas Willner bei der Präsentation der Pilotanlage geradezu bescheiden. Zusammen mit seiner Kollegin Prof. Anika Sievers und einem Team an Forschern hat er stattliche 13 Jahre daran gearbeitet, ein Verfahren für den schwerölfreien, klimaneutralen Erdölersatz aus Abfallstoffen, Altfetten und Plastikabfällen so zu perfektionieren, dass es jetzt kurz vor dem Einsatz in der Wirtschaft steht.

Pilotanlage in der Hochschule ist letzter Schritt vor der Serienreife

Die Einweihung der Pilotanlage im Werkstattgebäude der HAW mit prominenten Gästen wie der Zweiten Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) sowie dem CDU-Bundestagsabgeordneten und Recycling-Experten Oliver Grundmann war nun der Startschuss für den letzten wissenschaftlichen Schritt zur Serienreife. Höchstens noch bis Anfang 2024 werden hier letzte Optimierungen erprobt, um die angepeilte Kapazität von 100 Tonnen Erdölersatz pro Jahr zu erreichen.

Die drei Verarbeitungszustände der Umwandlung in der Pilotanlage der Hochschule HAW: Aus Altfett (li.) wird ein energiereichest Destillat, aus dem anschließend unter anderem Diesel (re.) hergestellt werden kann.
Die drei Verarbeitungszustände der Umwandlung in der Pilotanlage der Hochschule HAW: Aus Altfett (li.) wird ein energiereichest Destillat, aus dem anschließend unter anderem Diesel (re.) hergestellt werden kann. © Ulf-Peter Busse | Ulf-Peter Busse

Im Verhältnis zur Größe der Anlage ist das erstaunlich viel, findet sie doch in zwei kleinen Lkw-Containern Platz. Diese Form der Unterbringung hat bereits mit den fünf projektierten Anlagen bei Unternehmen zu tun. Denn die sollen alle transportabel sein, um stets so dicht wie möglich an die anfallenden Abfallmengen gebracht zu werden. Die erste wird vielleicht sogar schon Ende 2023 bei der Entsorgungsfirma KBS in Großenaspe bei Neumünster in Betrieb gehen, mit der die HAW in der Pilotphase eng kooperiert.

Explodierende Energiepreise haben neue Technik zusätzlich beflügelt

Tatsächlich ist der Startzeitpunkt perfekt gewählt, weil die explodierenden Energiepreise vor allem bei den fossilen Rohstoffen die neue Technologie nicht nur aus Klimaschutzgründen sinnvoll, sondern jetzt auch finanziell rentabel gemacht haben. Vor einem Jahr noch musste die zur Vermarktung der HAW-Forschungsprojekte zuständige Firma Nexxoil über eine Crowd-Funding-Aktion im Internet Geld von überzeugten Klimaschützern einsammeln, um die Technologie in der Wirtschaft über die KBS hinaus in ganz Deutschland bekannt zu machen.

„Diese Technik ist ein wichtiger Baustein für die Lösung der wichtigsten Menschheitsaufgabe, nämlich den Klimawandel in den Griff zu bekommen“, lobte Bürgermeisterin Fegebank und dankte dem Team um Thomas Willner und Anika Sievers „für die große Leidenschaft, die Liebe und das Durchhaltevermögen. Niemand hätte vor zehn bis 15 Jahren gedacht, wie entscheidend Energie aus Abfallstoffen heute zum Klimaschutz beitragen kann.“

Noch deutlicher wurde Oliver Grundmann: „Die Mobilität der Zukunft braucht weit mehr als ausschließlich den Elektroantrieb“, verwies er auf die Schifffahrt, den Schwerlastverkehr, aber auch auf die vielen Millionen von Pkw mit Diesel- oder Benzin-Motoren. „Selbst im Jahr 2030 werden wir noch 40 Millionen Verbrenner auf Deutschlands Straßen haben, ganz egal, wie ideologisch unsere Verkehrspolitik auch sein mag“, prognostizierte der Christdemokrat. „Für sie brauchen wir klimaneutrale Kraftstoffe. Und genau die bringt die HAW jetzt zu Serienreife. Das ist echte Zukunftstechnologie.“

Gefördert wurde das Projekt, das den Namen „Reactive Distillation“ (Readi) trägt, mit 655.200 Euro vom Bundesforschungsministerium. Weitere Unterstützung gab es von der HAW-Forschungsinitiative X-Energy, die bei der Hochschul-Tochter Energie-Campus in Bergedorf angesiedelt ist. Dort wird seit zehn Jahren schon die Norddeutsche Energiewende koordiniert, hat man sich mit Windkraft- und Speicherforschung sowie grünem Wasserstoff und Methan einen großen Namen gemacht. Für Prof. Martin Holle, Vizechef der HAW in Lohbrügge, haben die klimaneutralen Kraftstoffe ein vergleichbares Potenzial: „Wir haben neben dem Energie-Campus jetzt ein zweites starkes Standbein im Bereich der Energiewende“, sagte er am Donnerstag.