Hamburg. Zwei Schauspielerinnen bereiten in der JVA Billwerder Häftlinge auf die Zeit nach der Entlassung vor. Was die Männer dabei lernen.

Männer, die eine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder verbüßen und auf ihre Entlassung vorbereitet werden, können mit einem weiteren Baustein der Resozialisierung Pluspunkte sammeln: Zwei Schauspiellehrerinnen bieten Improvisations-Workshops an. Die jeweils acht Teilnehmer stärken somit ihr „Selbst-Bewusstsein“, lernen „kreatives Querdenken“ sowie „Möglichkeiten der spontanen Veränderung im Hier und Jetzt“, teilt Julia Jessen, eine der Workshop-Leiterinnen und Betreiberin des Instituts Kurswerk auf St. Pauli mit.

JVA Billwerder: Projekte für Männer, die bald entlassen werden

Anja Howe leitet die entlassungsvorbereitende Station in der JVA Billwerder, betreut dort stets 32 männliche Gefangene. Sie stehen kurz vor der Entlassung in die Freiheit oder der Verlegung in den offenen Vollzug. Die JVA Billwerder verlassen sie meist zwei bis sechs Monate nach ihrem Einzug in die Station. Maximal sind die Gefangenen zweieinhalb Jahre in Billwerder. „Mit dem Workshop wollen wir ihnen etwas mitgeben für ihr weiteres Leben.“

Im jüngsten Workshop trafen acht Männer im Alter von 25 bis 34 Jahren aufeinander. Sie haben noch sechs Monate bis 1,5 Jahre zu verbüßen. Bei längerer Verweildauer im offenen Vollzug steige täglich das Risiko, dass der Straftäter abends nicht in die Haft zurückkehrt, weiß Anja Howe. Doch für die Gerichte sei die Erprobung im offenen Vollzug wichtig.

Freunde können bei der Resozialisierung helfen

Einige Straftäter kehren draußen in ihren alten Job zurück, etwa bei einer Zeitarbeitsfirma. Bis auf André (34) wollen die Workshop-Teilnehmer ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. André, der nur seinen Vornamen preisgibt, ist wegen wiederholten Drogenhandels in Billwerder gelandet – zwei Jahre und vier Monate hat er insgesamt zu verbüßen. Raus kommt er „frühestens Ende November“. Er habe „alles Mögliche verkauft“, sei selbst kokainabhängig gewesen, sagt André.

Schon vor dem Knast habe er sich „allein und ohne Hilfe“ von seiner Sucht befreien können. André arbeite in der JVA als Haustechniker und Klempner. Nach seiner Haft will er erstmal bei seiner Freundin in Norderstedt wohnen und „wieder als Allrounder in meiner alten Handwerksfirma arbeiten“. Anja Howe: „Seine Lebensgefährtin war zu einem Kontaktgespräch hier.“ Dabei sei bei ihr der Eindruck entstanden, dass die Freundin André dabei helfen könne, nicht wieder auf die schiefe Bahn zu geraten. „Auch Eltern sind häufig zu Kontaktgesprächen hier“, sagt die JVA-Mitarbeiterin.

Gewaltpräventionstraining als ein weiteres Angebot

Ein 26-Jähriger aus Rahlstedt wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Seit Juli vergangenen Jahres ist er in Haft. „Im besten Fall und bei günstiger Zukunftsprognose, komme ich im Januar 2024 raus“, sagt er. Der 26-Jährige arbeite im Gefängnis als Garten- und Landschaftsbauer. „Draußen will ich wieder als Kellner mein Geld verdienen.“

Eine psychologische Stellungnahme zu seinem Fall ist in Arbeit. „Bestenfalls wird er im März in den offenen Vollzug in der JVA Glasmoor in Norderstedt verlegt“, sagt Anja Howe. „Dort wird unter anderem ein Gewaltpräventionstraining über den Hamburger Fürsorgeverein angeboten. Das kann für manche Häftlinge ein weiterer Baustein auf dem Weg zur vorzeitigen Entlassung sein“, sagt Anja Howe.

Übungen helfen, neue Perspektiven einzunehmen

„Ich hatte anfangs von dem Projekt keinerlei Vorstellung und war unsicher“, sagt ein 25-Jähriger. Schnell aber habe er sich über die „positive Art der Workshop-Leiterinnen, mit uns umzugehen“ gefreut und „viel darüber gelernt, wie man rüberkommt“. Das fange schon mit der Körperhaltung an. „Die beiden Frauen sind echte Schauspiellehrerinnen und machen diese Übungen auch mit ihren anderen Schülern“, sagt er.

Julia Jessen bestätigt dies: „Manchmal sind es sogar Führungskräfte. Die müssen dann ihr Alphatier-Ego massiv überwinden, etwa wenn sie sich gegenseitig einen Ball zuwerfen sollen.“ Der 26-jährige Inhaftierte habe für sich erkannt, wie er „sich selbst anders wahrnehmen“ könne: „Dadurch kann ich gewisse Situationen aus einer anderen Perspektive betrachten – und die Situation ändern.“

Finanziert wird das vom Hamburger Fürsorgeverein vermittelte Projekt von der Adalbert-Zajadacz-Stiftung mit mehreren Tausend Euro jährlich. Das Geld, das ausschließlich zur Deckung der Honorarkosten verwendet wird, reicht für vier Kurse, also 32 Teilnehmer. Sie besuchen den Workshop innerhalb der JVA an zwei Wochenenden, bekommen auch freiwillige „Hausaufgaben“, betont Anja Howe: „Sie können etwa Tagebuch schreiben, notieren, was sie für sich verändern möchten.“ Dies könnten etwa Alltagssorgen wie Stress mit Mitgefangenen sein, weil dem die Zelle nicht aufgeräumt genug ist.

Anja Howe: „Oft haben die Insassen schon mit den kleinsten Dingen in ihrem Umfeld große Probleme.“ Julia Jessen ergänzt: „Zwischen den Workshop-Wochenenden gibt es eine Eigenarbeits- und Forschungsphase. In dieser Zeit geht es darum, mit sich selbst in die Auseinandersetzung zu kommen. Dazu gibt es ein Tagebuch, in dem verschiedene Übungen und Gedankenspiele zum Ausprobieren angeboten werden und die dort von den Insassen dokumentiert und für sich selbst festgehalten werden können. Das Tagebuch ist ein Prozessbegleiter.“

Kreative Techniken für aktive Veränderungen entwickeln

Neben Julia Jessen ist auch die Theaterpädagogin und Schauspielerin Kim Doerfel regelmäßig in der Haftanstalt, um mit Gefangenen in JVA-Kirche, -Schule oder -Fertigungshalle – je nachdem, welcher Raum gerade verfügbar ist – kreative Techniken für aktive Veränderungen zu entwickeln. „Bei dem Workshop sind keine Mitarbeiter der JVA anwesend. Das macht für die Teilnehmer einen großen Unterschied aus. Dadurch entsteht eher eine Vertrauensbasis zu den Kursleiterinnen. Die Insassen haben für eine kurze Zeit das Gefühl, dass sie nicht im Gefängnis sind“, sagt Anja Howe. Sie könnten sich öffnen, was eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme an dem Workshop ist. Die Stimmung sei gelöst, es werde viel gelacht. Sie befrage die Teilnehmer lediglich im Anschluss nach deren Eindrücken.

Die Teilnehmer des Workshops im Gespräch mit Anja Howe, Leiterin der entlassungsvorbereitenden Station (3. v. r.) und Julia Jessen (Coach).
Die Teilnehmer des Workshops im Gespräch mit Anja Howe, Leiterin der entlassungsvorbereitenden Station (3. v. r.) und Julia Jessen (Coach). © Heyen

Bei den Treffen mit den Schauspiellehrerinnen solle „ein kreativer, schöpferischer Prozess“ in Gang gebracht werden, in dem die Teilnehmer lernen, Veränderung herbeizuführen, sagt Julia Jessen. „Es geht darum, den Zusammenhang von innerer Einstellung und äußerer Haltung körperlich zu erleben, die eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren. „Wenn man etwas anders macht, dann geht es einem auch anders.“

Die Teilnehmer würden lernen, einen Veränderungsprozess zu gestalten, neue Ansätze zu finden und an entscheidenden Stellschrauben zu drehen. „Nicht selten lachen die Teilnehmer erleichtert auf, weil sie entscheidende Dinge für sich erkannt haben.“ Ein Häftling habe sich beispielsweise vorgenommen, seiner Tochter künftig nicht mehr alles gleich zu versprechen, wie er es in der Vergangenheit getan habe, die Versprechen aber oft nicht hätte einhalten können.

Schauspiellehrerin Julia Jessen vom Institut Kurswerk bei einer Übung mit einem der Teilnehmer.
Schauspiellehrerin Julia Jessen vom Institut Kurswerk bei einer Übung mit einem der Teilnehmer. © Heyen

Wichtig seien die körperlichen Erfahrungen, die die Strafgefangenen machten, betonen die Workshop-Leiterinnen. „Dadurch werden Gefühle erlebbar gemacht“, sagt Kim Doerfel. Die Doppelseminare mit dem Titel „Ich kann auch anders“ seien in Billwerder die große Ausnahme, betont Anja Howe. Denn der Haftaufenthalt sei nicht als Therapie angelegt. Zwar gebe es auch psychologische und psychiatrische Angebote, aber mehr eben nicht.

„Blinde“ Mitspieler wie Seegras bewegen

In den Workshops werden kurze, persönliche Szenen entwickelt. Dann gehe es beispielsweise darum, dass einer der Straftäter in die Rolle eines Fußballtrainers schlüpft, der sein Team motivieren muss. In einer anderen Szene müssen vier Akteure die Augen schließen. Die anderen vier bewegen die blinden Mitspieler wie Seegras, jeweils ein Spielpartner bewegt einen „Blinden“. Julia Jessen: „Bei der Seegras-Übung geht es um Vertrauen, bewusstes Wahrnehmen und Kontakt. Es werden sanfte Impulse mit den Händen gesetzt, die den Partner bewegen wie Seegras in der Meeresströmung.“

„Einige Situationen und die daraus entstandenen Erkenntnisse bleiben den Teilnehmern auf ewig im Hinterkopf“, sagt Julia Jessen. Sie und ihre Kollegin würden in den Szenen nur mitspielen, „wenn der Laden angeschoben werden muss“, sagt die Kurswerk-Leiterin, die dann auch mal als streitende Ehefrau und mal als Bauarbeiter einspringe.

Anja Howe (JVA Billwerder, v. l.) mit den Workshop-Leiterinnen Kim Doerfel und Julia Jessen vor der JVA.
Anja Howe (JVA Billwerder, v. l.) mit den Workshop-Leiterinnen Kim Doerfel und Julia Jessen vor der JVA. © Heyen

Die Kandidaten würden von Anja Howe ausgesucht. Sie säßen wegen verschiedener Straftaten ein – etwa wegen gefährlicher Körperverletzung, Diebstahl, Betrug oder auch wiederholtem Fahren ohne Führerschein. Viele von ihnen seien Wiederholungstäter.

Das Projekt ist im September 2021 gestartet, endet im Spätsommer. Anja Howe hofft, dass ein weiterer, dritter Block angeboten werden kann, zumal auch die Teilanstalt für Frauen inzwischen davon erfahren und großes Interesse daran habe. Doch ob es eine Verlängerung gibt, ist noch unklar.