Bergedorf. 16-Jähriger harrt mit Mutter auf zwölf Quadratmetern aus. Sie vermissen die Familie in der Ukraine. Was sie an Deutschland schätzen.
Coole Turnschuhe, das neueste Handy und die angesagtesten Kopfhörer – wollen eigentlich alle haben. Aber das hört man wirklich sehr selten von einem 16-Jährigen: „Ich bin glücklich, ich brauche nichts.“ Dazu lächelt Artem freundlich – und dankbar. Dabei bewohnt er mit seiner Mutter ein gerade mal zwölf Quadratmeter großes Zimmer in Bergedorf. Wie das geht? „Ich schlafe tagsüber auf einer Matratze vor Mamas Bett. Immer wenn ich aus der Stadtteilschule Mümmelmannsberg komme“, sagt der junge Ukrainer, der seit einem Jahr in Deutschland lebt und erste Freunde in der Integrationsklasse gefunden hat, auch im Fitnessclub in Rothenburgsort.
In sogenannten Interimsstandorten im Bezirk Bergedorf leben Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind und voraussichtlich nicht dauerhaft bleiben. Der städtische Träger fördern & wohnen konnte sie in bestehenden Unterkünften unterbringen wie am Mittleren Landweg und an der Brookkehre, aber auch in insgesamt zehn Bergedorfer Hotels: Allein 83 Plätze gibt es im Hotel Sachsentor an der Bergedorfer Schlossstraße, sogar 234 im neu gebauten NinetyNine an der Serrahnstraße. Eher überschaubar ist es im Moteleum mit seinen 18 Zimmern am Weidenbaumsweg. Hier lebt Artem mit seiner Mutter Lina Lats, die es liebt, jeden Tag im Allermöher See zu schwimmen.
Krieg in der Ukraine: Flüchtlinge in zehn Bergedorfer Hotels
Aus der Süd-Ukraine stammen die beiden, die über Tschechien und Polen nach Deutschland kamen. „Ich vermisse meine Heimat und meine Familie. Aber ich bleibe hier“, sagt Artem, der vielleicht Sportlehrer werden will. Oder Fitnesstrainer. Fast täglich telefoniert er mit seiner Schwester (25) und seinem Vater, der als Ingenieur in einem Atomkraftwerk arbeitet.
„Es ist eine große Ungewissheit“, meint die 50-jährige Lina, die als Psychologin in einem Kindergarten mit 200 Kindern angestellt war. Derzeit hofft sie, dass ihr Diplom in Deutschland anerkannt wird, macht eine Fortbildung im UKE und sucht nach einer Wohnung, die nicht mehr als 660 Euro warm kostet.
Haus für alle: 60 Prozent der Besucher kommen aus der Ukraine
„Wir fühlen uns hier beschützt und sicher“, sagt die Frau. Was sie vom Einsatz der Streumunition hält? Entsetztes Schweigen. „Wir haben Familienmitglieder, die auf der Krim wohnen. Die muss wieder richtig ukrainisch werden, das ist unser Land“, sagt Lina Lats.
Wie geht es den anderen Flüchtlingen? Was haben sie für Sorgen? Viele treffen sich im Haus für alle an der Serrahnstraße. „Derzeit kommen fast 60 Prozent unserer Besucher aus der Ukraine“, sagt Julia Schneide, deren Personalstelle als Koordinatorin des Integrationsprojekts Ukraine zum Glück bis Ende 2024 verlängert wird. Sie sucht die Flüchtlinge in den Unterkünften auf und lotst sie donnerstags und freitags ins Café an der Serrahnstraße, wo von 10 bis 12 Uhr zahlreiche Kooperationspartner Sozial- und Berufsberatungen anbieten: Fragen zur Krankenkasse, zur Ausländerbehörde und zur Kitaplatzsuche sind häufig gestellt.
An erster Stelle aber steht immer das Deutschlernen. „Das mache ich auch beim Spazierengehen“, sagt Liudmyla Bezbozhna. Die 65-Jährige, die in Kiew eine Auto-Firma gemanaget hat, bewohnt seit einem Jahr „ein komfortables Zimmer“ im Rcadia Hotel am Oberen Landweg. Hier leben insgesamt 378 Flüchtlinge. „Ich möchte sehr gern in Deutschland bleiben, hier gibt es viel Kultur und soziales Leben“, schwärmt sie – und versucht bislang vergeblich, ihre Schwester davon zu überzeugen, die ukrainische Heimat zu verlassen. Auch die Schwiegertochter möchte mit der zwölfjährigen Anna lieber in Kiew bleiben – „dabei könnte meine Enkelin hier so gut Deutsch und Englisch lernen“.
Manche Flüchtlinge wollen nur noch Ukrainisch sprechen, „aber ich kann ihnen leider nur auf Russisch helfen“, sagt Projektkoordinatorin Olga Reith im Café der Kulturen, das übrigens noch ehrenamtliche Sprachmittler sucht – und welche, die donnerstags zwischen 9 und 12 Uhr mit in die Unterkünfte gehen.
Flüchtlingsunterkunft An der Twiete wird ausgebaut
Zum Beispiel in die ehemalige Förderschule An der Twiete, wo derzeit 19 Familien wohnen. Hamburgs Sozialbehörde will das Haus umbauen und acht Jahre lang Flüchtlinge unterbringen können. „Näheres zu den Planungen und zum Baubeginn kann ich noch nicht sagen“, so Pressesprecherin Stefanie Lambernd.
„Das soll zur Folgeunterkunft mit 320 Plätzen ausgebaut werden“, hat Julia Schneide gehört und hofft auf ein hübsches Ambiente. Denn bislang würden die Familien höchstens zwei Monate bleiben: Zu ungemütlich seien die Zwölf-Bett-Zimmer samt Außenduschen im Container.
Damit indes würden sich die afrikanischen Studenten wohl zu gern begnügen: „Wöchentlich fragen hier etwa zwei Menschen aus sogenannten Drittstaaten an. Sie kommen etwa aus Tunesien oder Marokko und haben in der Ukraine studiert, oft fehlen nur wenige Medizin-Semester“, berichtet Koordinatorin Sanaa Chlihi Tale, die selbst aus Marokko stammt und ahnt: „Sie können nicht einfach zurück, sie sind die ganze Hoffnung ihrer Familien.“ Entsprechend verzweifelt seien die jungen Menschen, die in Deutschland keine Perspektiven finden – weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch Bürgergeld bekommen.
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„Wir machen uns große Sorgen um deren psychischen Zustand. Warum bloß werden solche studierte Menschen abgeschoben, die hier doch als Arbeitskräfte gebraucht werden?“, ärgert sich Girija Harland, die für die fachliche Koordination im Haus für alle verantwortlich zeichnet – und ankündigt, dass der Saal nun sechs Wochen lang gesperrt und renoviert wird: „Wir machen aber keine Sommerpause, weichen notfalls in den Innenhof aus.“
Viele Ukrainer stellen sich darauf ein, länger in Deutschland zu bleiben
Sie ahnt, dass alle Hilfen für Flüchtlinge aus der Ukraine auch übermorgen noch notwendig sein werden: „Erst dachten alle ja, der Krieg sei bald vorbei. Inzwischen gibt es einen Perspektivwechsel und viele Leute stellen sich darauf ein, in Deutschland zu bleiben. Wir wollen dabei helfen, dass sie in unsere Gesellschaft finden.“
Und dabei wäre es wünschenswert, wenn auch diese Menschen auf dem Wohnungsmarkt eine dauerhafte Bleibe finden könnten – allein aus ökonomischen Gründen: Zuletzt hatte der Rechnungshof angemerkt, dass Hamburg Ende 2021 in den Unterkünften von fördern & wohnen rund 27.000 Personen öffentlich-rechtlich untergebracht hatte. Die Kosten betrugen im Jahr 2021 rund 214 Millionen Euro. „Damit ist die öffentlich-rechtliche Unterbringung teurer als die Unterbringung in eigenem Wohnraum“, stellte der Rechnungshof nüchtern fest.