Hamburg. Einzige Kneipe in Altengamme hat an drei Tagen in der Woche geöffnet – obwohl es sich nicht rechnet. Warum zwei Brüder das so machen.
Das denkmalgeschützte Reetdachhaus am Altengammer Hauptdeich 120 befindet sich bereits in siebter Generation in Familienbesitz. 1794 haben Vorfahren von Hans-Jürgen Herr (74) und Rolf Herr (71) es gekauft. Der Urgroßvater der beiden Brüder, Michal Hinrich Scheer, erwarb 1890 die erste Schankkonzession für das Fährhaus Altengamme, „aber vermutlich befand sich hier auch vorher schon ein Gasthaus“, betont Hans-Jürgen Herr und fügt hinzu: „Die Menschen haben hier auf die Fähre gewartet. Da wird es einen Ausschank gegeben haben.“ Michel Hinrich Scheer und später auch dessen Sohn betrieben nämlich nicht nur die Gaststätte, sondern beförderten als Fährmänner Menschen zwischen Altengamme und Stove über die Elbe.
„Die Geschichte der Fährmänner in unserer Familie reicht sogar noch weiter zurück. Wir haben hier noch einen Vertrag aus dem Jahre 1829. Den hat mein Urururgroßvater unterschrieben“, sagt Hans-Jürgen Herr. Bis 1928 seien die Fahrgäste – maximal zehn Personen und ein Fahrrad – mit Fähren befördert worden, die mit Segeln oder Rudern vorangetrieben wurden. In den 1960er-Jahren, als die Elbbrücke in Geesthacht in Betrieb ging, wurde der Fährbetrieb eingestellt. Im Fährhaus Altengamme schenkt Hans-Jürgen Herr noch immer Bier aus.
Im Fährhaus Altengamme gibt es Bier und Klönschnack
In weißer Schrift auf grünem Untergrund steht neben „Fährhaus Altengamme“ auch „Elly Herr“ auf einem beleuchteten Schild an der zum Deich hin ausgerichteten Fassade des alten Hauses. Elly Herr, geborene Scheer, ist die Mutter der heutigen Betreiber. Sie starb vor 20 Jahren.
Noch älter als der Kaufvertrag von 1794, der im sogenannten Clubraum an der Wand hängt, ist die Standuhr neben dem kleinen Tresen in der Gaststube, betont Hans-Jürgen Herr. Er ziehe sie täglich auf. „Sie ist etwa so alt wie das Haus – und das ist 250 bis 300 Jahre alt.“ Die Tische sind immerhin mehr als 100 Jahre alt. Seit zehn Jahren ist das Haus denkmalgeschützt. Vergangenes Jahr wurde das Reetdach erneuert. Unterstützt wurde die Sanierung von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz mit Hilfe der GlücksSpirale.
Zu den legendären Bratkartoffeln wurden Steak, Roastbeef und andere „Beilagen“ serviert
Rolf Herr, gelernter Koch, bereitete über Jahrzehnte Speisen für die Gäste zu, die sein Bruder servierte. „Seine Bratkartoffeln waren berühmt, mein Bruder ist ein hervorragender Koch. Deshalb hatten wir einen sehr guten Ruf“, sagt Hans-Jürgen Herr. Sie wurden mit „Beilagen“ wie Matjes, Sauerfleisch, Roastbeef oder Steak serviert. Nicht immer gab es eine Speisekarte: Hans-Jürgen Herr zählte die Auswahl an Speisen einfach auf. Für Gesellschaften gab es auch Spargel oder Grünkohl. Seit sieben Jahren beschränkt sich die Auswahl auf Spiegelei und Mettwurstbrot, denn Rolf Herr kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr wie früher in der Küche wirken. „Ich vermisse das manchmal, denn es war eine schöne Zeit – aber auch viel Lauferei.“
„Unsere Mutter hat uns geholfen, etwa Kartoffeln gepellt“, sagt der 1,95 Meter große Hans-Jürgen Herr. Zuvor war es andersrum, halfen die Brüder ihrer Mutter. „Mein Bruder hat nach seiner Koch-Lehre Anfang der 70er-Jahre abends und an den Wochenenden hier gekocht, weil er tagsüber woanders seinem Hauptberuf nachging“, sagt der 74-Jährige. 1990 übernahm Hans-Jürgen Herr offiziell die Gaststätte von seiner Mutter. Er habe im Gegensatz zu seinem Bruder nie woanders Geld verdient, berichtet der Altengammer.
Stammgäste kommen seit Jahrzehnten in kleinen Gruppen in die alte Kneipe
Viele Familienfeiern seien im für bis zu 30 Gäste ausgelegten Clubraum gefeiert worden. Längst geht es im Fährhaus Altengamme ruhiger zu: Hans-Jürgen Herr bedient dort fast nur noch Stammgäste, die ihn in kleinen Gruppen besuchen – „meist bereits seit Jahrzehnten“. Die Gäste kämen, um Karten zu spielen und bei einem Flaschenbier zu klönen. „Wir kennen einige Gäste bereits seit unserer Kindheit“, sagt der Wirt und fügt hinzu: „Mein Bruder und ich sind Rentner und wollen auch klönen. Dadurch, dass wir das Gasthaus an einigen Tagen weiterhin öffnen, brauchen wir dazu nicht weggehen.“ Wirtschaftlich rechne sich der Kneipenbetrieb nicht mehr: „Das machen wir nur noch aus Spaß an der Freud‘, weil wir die Stammgäste weiterhin begrüßen wollen.“
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Alle paar Wochen schaut eine Gruppe von sieben Seniorinnen vorbei. „Die bringen ihren Kuchen mit, bestellen bei mir Kaffee und Schnaps und schnacken dann in gemütlicher Runde Plattdeutsch“, sagt der 74-Jährige, der etwa 30 Stammgäste hat, „aus Altengamme und der näheren Umgebung“. Manchmal würde sich auch ein Radfahrer in die Gaststube „verirren“, nachdem er vom Deich aus die beleuchtete Kneipe gesehen hat. „Der bekommt hier natürlich auch ein Bier. Jedermann ist willkommen“, sagt Herr. Geöffnet ist dienstags und donnerstags ab 16 Uhr bis zum open end. Sonntags bitten die Herrs zwischen 10 und 13 Uhr zum Frühschoppen.
Mit den beiden kinderlosen Junggesellen endet die Ära der letzten Altengammer Kneipe
Die Brüder wohnen beide auch in dem alten Haus, in verschiedenen Wohnungen. „Wir sind alte Junggesellen und kinderlos“, sagt Hans-Jürgen Herr. Mit seinem Bruder und ihm ende deshalb die mindestens 134 Jahre alte Ära der letzten Kneipe in Altengamme. Doch vorerst noch nicht, betont der 74-Jährige: „Ich bin noch einigermaßen fit. Und so lange dies der Fall ist, bleibt die Gaststätte geöffnet.“