Hamburg. Lohbrügges schönstes Gotteshaus feiert: Von Brautpaaren geliebt, doch wo liegt die Zukunft? Die tiefen Spuren der Kirchenaustritte.
Sie gilt als schönste Kirche im ganzen Bezirk – jedenfalls für alle, die ihren schlanken neugotischen Stil lieben, mehr als das eher dörfliche Fachwerk von Bergedorfs St. Petri und Pauli oder der meisten Gotteshäuser in den Vier- und Marschlanden: Lohbrügges Erlöserkirche überragt sie mit ihrem 52-Meter-Turm alle, steht sie zudem doch auch noch ganz oben auf einer der höchsten Stellen des Geesthangs im Bezirk Bergedorf. Jetzt feiert sie ihr 125-jähriges Jubiläum.
Die imposante Backstein-Schönheit, 1897 bis 1899 nach den Plänen des Hamburger Architekten Hugo Groothoff errichtet, ist bis heute mit allen ihren Türmchen und Erkern, den kreisrunden Fenstern und der wunderschönen Empore im zwölf Meter hohen Innenraum erhalten, was die 500 Plätze große Erlöserkirche bis heute bei Brautpaaren hoch im Kurs stehen lässt. Aber auch Taufen werden hier gern gefeiert – und natürlich steht dieses alte Symbol selbstbewusster Lohbrügger Arbeiter gegenüber dem Bürgertum der einstigen Nachbarstadt Bergedorf bei den Menschen im Stadtteils bis heute hoch im Kurs: „Die Kirche und ihr Umfeld bilden das Herz von Lohbrügge“, weiß Pastorin Ellen Drephal.
Ein ganzer Festtag zum Jubiläum: Erlöserkirche feiert mit Musik, Theater und Kirchenrallye
Die 55-Jährige, die mit ihrer Familie im Obergeschoss des 1904 eingeweihten Pastorats gleich neben der Kirche wohnt, organisiert zusammen mit ihrem Pastoren-Kollegen Thomas Reinsberg jetzt die große Jubiläumsfeier: Für Sonntag, 29. September, wird ein vielfältiges Programm für jedes Alter vorbereitet. Los geht es um 10 Uhr mit dem Festgottesdienst, dessen musikalischen Teil der Kammerchor Lohbrügge unter Leitung von Christopher Ledlein gestaltet. Direkt im Anschluss lädt die Gemeinde ins Pastorat gleich vis-à-vis an die Lohbrügger Kirchstraße ein, wo neben Ellen Drephals Wohnung schon seit Jahrzehnten auch das Gemeindehaus untergebracht ist.
Dort gibt es für alle Gäste Sekt und Selter, dazu selbstgebackenes Brot und selbstgemachte Suppen für alle. „Und viel Gelegenheit zum Plaudern oder auch für Reden“, sagt die Pastorin. Weiter geht es mit einem Kinderfest und wer Lust hat, kann sich beim Nachbilden der einzigartigen Kirchenfenster mit Laminierfolie versuchen oder an der Kirchenrallye teilnehmen. Sie umfasst neben Gotteshaus und Pastorat auch die heute von der Griechischen Gemeinde Bergedorf genutzte alte Aussegnungshalle an der Marnitzstraße. Vor allem aber durchstreifen die Teilnehmer den großen Kirchenpark, der bis 1971 noch Friedhof war, woran bis heute mancher Grabstein erinnert.
Wilhelm Bergner: Lohbrügges großer Industrieller war auch wichtigster Spender für den Kirchenbau
Die gesamte Parkanlage ist auf einen Kuppelbau in ihrer Mitte ausgerichtet: das Mausoleum von Wilhelm Bergner (✝ 1904) und seiner Familie. Die Bergners waren die wichtigsten Spender der Erlöserkirche, und ihr Patriarch als Gründer des Bergedorfer Eisenwerks der mit Abstand wichtigste Fabrikbesitzer Lohbrügges. Ihm ist es zu verdanken, dass es die Erlöserkirche überhaupt gibt, spendete er doch mit 40.000 Mark fast die Hälfte ihrer Baukosten – und seine Frau Agnes übernahm mit weiteren 10.000 Mark die Kosten für die elf einzigartigen Kirchenfenster. Sie gelten bis heute als einzigartig im Großraum Hamburg und zeigen Szenen aus dem Leben des Jesus von Nazareth.
Turbulent wie in seinem Leben vor mehr als 2000 Jahren geht es beim Jubiläumsfest am 29. September weiter: Um 15 Uhr zeigt die Schauspieltruppe von Johannes Meyer, Pastor der Lohbrügger Schwesterkirche in Kirchsteinbek, das Melodram „Durchreise“ von Curth Flatow. Dabei geht es um die jüngste Deutsche Geschichte, vom Abrutschen in die Nazi-Diktatur 1930 bis in unsere Gegenwart. „Ein beeindruckendes Stück, gerade vor dem Hintergrund der heutigen Wahlerfolge der AfD“, sagt Ellen Drephal zu dem Schauspiel, das die Erlöserkirche zur Bühne macht. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten.
Zur Einweihung gab es eine Bibel von Kaiserin Auguste Victoria, der Frau von Kaiser Wilhelm II
Turbulent ist auch die Geschichte dieses ersten Lohbrügger Gotteshauses, das vor 125 Jahren auf Geheiß von Kaiser Wilhelm II und mit Wilhelm Bergner als finanziellem Turbo entstand. Bis dahin mussten Kirchgänger und Konfirmanden nämlich stets eineinhalb Stunden Fußweg auf sich nehmen, um die für sie zuständige Kirche in Kirchsteinbek zu erreichen. Kaum jemand verirrte sich ins Bergedorfer „Ausland“ nach St. Petri und Pauli. Der Kaiser aber wollte, dass die Arbeiter als wichtigster Faktor der Industrialisierung nicht auch noch am Sonntag lange Wege zum Kirchenbesuch auf sich nehmen mussten. Deshalb spendete die Kaiserin Auguste Victoria zur Einweihung eine Bibel, die bis heute als Schmuckstück im Tresor der Kirche liegt.
Es folgten mehr als drei Jahrzehnte, in denen die Geschicke der Gemeinde von Pastor Ludwig Marnitz geprägt wurden. Er hatte vor dem Bau der Kirche bereits als „Hilfsgeistiger“ in Lohbrügge gewirkt, als die Gottesdienste noch im Saal des Tanzlokals „Schwarzer Walfisch“ an Lohbrügges Amüsiermeile, der heutigen Alten Holstenstraße abgehalten wurden. Marnitz ging erst 1935 in den Ruhestand. Nach ihm ist die Straße gleich neben der Erlöserkirche benannt.
Große Konkurrenz in den 60er-Jahren: Mit dem Bau von Lohbrügge-Nord entstehen gleich zwei neue Kirchen
Mit dem Bau der Trabantenstadt Lohbrügge-Nord in den 60er-Jahren bekam die Gemeinde Konkurrenz: Im riesigen Neubaugebiet auf den einstigen Feldern der Lohbrügger Bauern entstanden mit der Gnadenkirche am Schulenburgring und der Auferstehungskirche am Kurt-Adams-Platz gleich zwei neue Gemeinden. Aber die vielen Neubürger zeigten, dass die Stadtplaner recht hatten: Es gab genügend Gläubige für alle drei.
Das sollte sich erst nach der Jahrtausendwende ändern: Wie überall in Deutschland brachte die Welle der Kirchenaustritte auch Lohbrügges Gemeindegefüge ins Wanken. Doch die 2009 endliche eingeleiteten Fusionsgespräche zogen sich über fast ein Jahrzehnt hin. Erst 2019, als bereits das Damoklesschwert der Zwangsauflösung einzelner Gemeinden über Lohbrügge hing, wurden die zuvor immer wieder gescheiterten Gespräche mit einem „Zusammengehen“ beendet: Aus Erlöser- und Gnadenkirche wurde die Christuskirchengemeinde. Nur die Auferstehungskirche blieb außen vor.
Immer neue Fusionen: Bald wird die Erlöserkirche wohl zur Propstei Harburg gehören
Das gilt übrigens auch für die nächsten Fusionswellen: Seit 2022 gehört die Christuskirchengemeinde zum Pfarrsprengel Bergedorf, ist also aus der Propstei Wandsbek-Billetal zum Hamburg-Mitte-Bergedorf gewechselt, zu dem auch der Michel, die Hamburger Hauptkirche St. Katharinen und St. Petri sowie alle Bergedorfer Kirchen außer denen in den Vier- und Marschlanden gehören. Und folgt die Kirchensynode Ende September den neuen Fusionsplänen, wechselt der gesamte Pfarrsprengel Bergedorf demnächst zur Propstei Harburg, der auch Geesthacht sowie die Vier- und Marschlande zugeschlagen werden.
„Wir erleben die Folgen der 80er-Jahre, als die evangelische Kirche nicht mehr auf Augenhöhe mit den Menschen war“, sagt Pastorin Ellen Drephal. „Uns fehlt heute die Generation der 25- bis 60-Jährigen. Sie sind in Vereinen oder auch esoterisch aktiv. Das tut richtig weh, denn ich glaube, dass vielen die Gemeinschaft in ihrer Ortskirche guttun würde, sie in ihrem Alltag trösten und tragen könnte.“
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Die Christuskirchengemeinde steuert mit Angeboten gegen, die stetig besser besucht werden. Etwa der Kinderkirche, die an jedem ersten Sonnabend im Monat von 10 bis 12 Uhr schon mehr als zehn regelmäßige Besucher ab vier Jahren hat. Oder dem offenen Jugendkeller immer freitags ab 18 Uhr im Gemeindehaus, den beiden Chören, der Kantorei und dem Männerkreis an jedem zweiten Donnerstag im Monat ab 19.30 Uhr mit Billard, Dart und Klönen im Jugendkeller. Auch der Konfirmandenunterricht wurde im Zusammenspiel mit allen Kirchen des Pfarrsprengels Bergedorf entschlackt, auf ein Jahr komprimiert und um spannende Elemente wie eine „Konfi-Freizeit“ und eine Übernachtung in der Kirche ergänzt.
„Vielleicht können wir so etwas gegensteuern, aber die nächsten zehn Jahre werden hart“, blickt Pastorin Drephal auf die Prognose, dass die Zahl der Menschen in den Gemeinden des Pfarrsprengels Bergedorf von heute gut 20.000 auf nur noch 16.000 schrumpft. „Schon bald steht die Frage im Raum, welche Gebäude wir noch für die Kirche erhalten wollen und von welchen wir uns unter Tränen trennen müssen.“ Man könne natürlich darauf hoffen, dass der Heilige Geist das noch verhindere. „Aber ich glaube eher, dass wir uns fragen müssen, wie wir ihm dabei ganz praktisch helfen können. Auch im Sinne einer Zukunft für unsere Erlöserkirche.“