Hamburg. Teilchenphysiker Christian Schwanenberger trifft bei der Nacht der Kirchen auf Pastor Frank Engelbrecht. Ein Gespräch über Gott und die Welt.
Spätestens seit Galileo Galilei gilt das Verhältnis zwischen Kirche und Wissenschaft als angespannt. 1633 machte die Inquisition dem italienischen Universalgelehrten den Prozess, weil Galilei die Sonne in den Mittelpunkt unseres Weltbildes gerückt hatte. Der tiefgläubige Katholik Galilei musste die letzten Jahre seines Lebens unter Hausarrest verbringen.
Knapp 400 Jahre später hat sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kirche deutlich entspannt: Bei der Hamburger Nacht der Kirchen trifft der Pastor Frank Engelbrecht im Desy-Auditorium (Notkestraße 85) am Sonnabend ab 18 Uhr auf den Teilchenphysiker Prof. Dr. Christian Schwanenberger. Das Abendblatt traf beide vorher zum Gespräch.
Hamburger Abendblatt: Herr Engelbrecht, was verbindet Sie als Pastor mit der Wissenschaft?
Frank Engelbrecht: Ich lebe in einer Welt, die von der modernen Wissenschaft geprägt ist, der Medizin, der Chemie, die Astronomie. Die Vorstellung, die biblische Schöpfungsgeschichte liefere uns ein naturwissenschaftliches Modell der Entstehung der Welt, ist widerlegt, aber damit nicht der Glaube. Die Wissenschaft kann mir helfen, vorurteilsfrei auf die Welt zu blicken. Das entspricht auch meinem Glauben. Ich möchte immer wieder neu lernen, mit dem liebenden Blick Gottes auf die Welt, die Menschen, die Schöpfung zu schauen.
Und was hat Wissenschaft mit dem Glauben zu tun, Herr Schwanenberger?
Christian Schwanenberger: Wir befassen uns mit der Frage, wie das Universum entstanden ist – also mit der Schöpfung. Seit Galilei gilt Naturwissenschaftlern eine Theorie nur dann als gültig, wenn man sie experimentell vielfach nachweisen kann. Wir fragen danach, wie das Universum gebaut und was nach dem Urknall passiert ist. Unser Wissen verschiebt sich immer weiter zum Urknall hin. Am Teilchenbeschleuniger CERN können wir im Labor Bedingungen simulieren, wie sie ein Milliardstel einer Millionstelsekunde nach dem Urknall geherrscht haben.
Abend im Desy bei der Nacht der Kirchen: Was war vor dem Urknall?
Die Frage, was davor war, finde ich fast noch interessanter …
Schwanenberger: Ja, aber dazu fehlt uns der experimentelle Zugang. Die Frage ist für jeden Einzelnen berechtigt, für einen Physiker aber schwierig. Denn die Zeit hat sich erst mit dem Urknall entwickelt; es ergibt daher keinen Sinn zu fragen, was vor dem Urknall war. Als Privatperson bewegt mich aber schon, woher das alles kommt: Da kommt die Theologie ins Spiel. Für Gott ist immer noch viel Platz. Vieles hat die Wissenschaft noch nicht verstanden. Je länger man sich mit der Naturwissenschaft und ihren Gesetzen befasst, umso ästhetischer erscheinen sie. Das Universum ist wahnsinnig toll gebaut. Mit wenigen Gleichungen lässt sich die Welt recht gut erklären.
Haben Sie durch die Wissenschaft zum Glauben gefunden?
Schwanenberger: Nein. Ich bin katholisch aufgewachsen, der Glaube war schon da, bevor ich Wissenschaftler werden wollte. Dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg wird folgender Vergleich der Physik mit einer Tasse Kaffee zugeschrieben: „Der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott!“ Wir kennen nur vier Prozent der Materie, 96 Prozent sind dunkle Materie und dunkle Energie, die wir nicht verstehen. Es ist noch genügend Platz für Gott.
„Viele Wissenschaftler staunen über das Universum“
Sind eigentlich viele Wissenschaftler religiös?
Schwanenberger: Das dürfte meines Erachtens dem Durchschnitt der Allgemeinheit entsprechen. Viele staunen aber über das Universum.
Wo können sich Physik und Theologie ergänzen?
Engelbrecht: Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen Wissenschaft und Glaube: Das ist die Offenheit der Systeme. Bei beiden bleibt stets ein Geheimnis. Und je weiter wir vordringen, umso mehr neue Geheimnisse tauchen auf. Die Physik schaut, was das Universum für uns bedeutet. Die Poesie und der Glaube stellen die freche Frage, was wir für das Universum bedeuten. Das Gefühl, selbst eine Bedeutung zu haben, spürt jeder spätestens in dem Moment, wenn er ein Kind bekommt. Ich mag den Satz der Desy-Direktorin für Teilchenphysik Beate Heinemann: „Wir bestehen aus Sternenstaub.“ Das ist physikalisch richtig und zugleich märchenhaft.
Was die Wissenschaft mit dem Glauben verbindet
Schwanenberger: Die Disziplinen sind gar nicht so verschieden – beide sind von der Neugier getrieben, dem Staunen und dem Ehrgeiz, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Unsere Methoden sind anders; unsere Thesen müssen eben im Experiment belegbar sein. Überall da, wo wir keine Experimente mehr machen können, endet die Wissenschaft und beginnt der Raum des Glaubens.
Deshalb die Nacht der Kirchen am Desy?
Engelbrecht: Genau. In einer Zeit, in der uns so viele Lebenswelten auseinanderbrechen, halte ich diese fröhliche und intensive Zusammenarbeit für immens wichtig. Darin steckt ja der Aufruf: Kommt raus aus den Elfenbeintürmen der Theologie und der Wissenschaft! Weder die Wissenschaft noch der Glaube dürfen sich abschotten.
Glaube und Wissenschaft nähern sich wieder an
Lange waren Kirche und Wissenschaft eins: Die Kirche hat die Welt erklärt. Erst mit der Aufklärung hat die Wissenschaft sich zur Welterklärerin aufgeschwungen – sie wurden Gegenspieler. Bewegen sie sich jetzt wieder aufeinander zu?
Schwanenberger: Deshalb sind wir hier.
Engelbrecht: Wir brauchen die Vielfalt der Perspektiven, um die Welt zu verstehen. Beide sind fehlbar. Das zeigt die Reaktion der Kirche auf Galilei. Damals hat die Kirche nicht verstanden, dass die Theologie und die Wissenschaft über verschiedene Dinge gesprochen haben. Sie hat gefürchtet, dass die Erkenntnisse der Physik auch die sozialen und moralischen Strukturen durcheinanderwirbeln. Deshalb hat sie irrigerweise die Physik bekämpft. Tatsächlich aber ist uns Menschlichkeit verloren gegangen. Und da hilft uns der Glaube.
„Die Bibel ist keine Beschreibung der Naturwissenschaften“
Schwanenberger: Der Konflikt hat sich längst entspannt. Seit der Aufklärung wissen wir: Die Bibel ist kein Gesetzbuch, sondern man muss sie interpretieren. Sie ist keine Beschreibung der Naturwissenschaften: Die Welt wurde nicht in sieben Tagen geschaffen, aber die zentrale Botschaft lautet, dass Gott sie erschaffen hat. Das wollen wir in der Nacht der Kirchen zusammenbringen: Die Wissenschaft kann nicht alles leisten, der Transfer in die Gesellschaft obliegt anderen. Während der Corona-Pandemie beispielsweise konnten die Forscher die Daten liefern, aber die Politik musste über Schulschließungen entscheiden. Dafür bedarf es des Austauschs. Die Wissenschaft ist extrem erfolgreich, ihre Ergebnisse müssen aber auch von der Philosophie, der Theologie, der Kunst und der Politik interpretiert werden.
Engelbrecht: Ich nehme eine große Entspannung zwischen Wissenschaft und Glaube wahr. Christen dürfen an den Urknall glauben, Physiker an Gott. Im deutschsprachigen Raum ist der Dialog zwischen Kirche und Wissenschaft noch ausbaufähig, man lebt ein wenig aneinander vorbei. Das sollten wir ändern, denn die Wissenschaft bestimmt unser Leben immer stärker. Ein drastisches Beispiel war die Atombombe. Nun ist es die künstliche Intelligenz. Was möglich ist, wird passieren. Wenn die Menschheit sich den Gestaltungswillen erhalten will, muss sie Wissenschaft und Gott zusammenbringen. Da kann ich nicht als Pfarrer nur in meiner Kirche bleiben, da muss ich das gesellschaftliche Bewusstsein schärfen.
Nun kommt die Kirche ins Desy – planen Sie schon die Gegeneinladung in die Gemeinde nach Blankenese?
Engelbrecht: Die spreche ich hiermit gern aus.
Schwanenberger: Danke! Wir kommen gern. Wir wollen mit unserer Forschung hinaus in die Stadt.
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Bei der „Nacht der Kirchen“ am 21. September auf dem Desy-Campus gibt es nicht nur den Dialog zwischen Engelbrecht und Schwanenberger, sondern auch Filme, Musik, Führungen zum Teilchenbeschleuniger. In diesem Jahr steht die Veranstaltungsreihe unter dem Motto „Was glaubst du denn“.
Insgesamt beteiligen sich am Sonnabend mehr als 80 Kirchengemeinden in und um Hamburg mit über 250 Veranstaltungen. Wie immer sind alle Veranstaltungen kostenfrei. Die Nacht der Kirchen wird um 19 Uhr auf der NDR-Bühne an der Mönckebergstraße mit Bischöfin Kirsten Fehrs, Schulsenatorin Ksenija Bekeris, Erzbischof Stefan Heße, Propst Dr. Martin Vetter und Uwe Onnen eröffnet. Zudem treten die Hamburg Gospel Ambassadors auf, die Blues-Rock-Sängerin Jessy Martens & Band und der Musiker Julian Sengelmann.
Ungewöhnliche Begegnungen in 80 Kirchengemeinden
Unter dem Titel „Orgel X Aggregat“ öffnet die Hauptkirche St. Nikolai die Türen. Mit Techno trifft die High-Energy-Liveband Aggregat auf die Organistin Anne Michael, und sie verbinden musikalisch die Welten der analogen und der elektronischen Musik. Der französische DJ Raphaël Marionneau („Le Voyage Abstrait“) und der Laser-Artist Mirko Schinke (Planetarium Hamburg) erschaffen eine musikalische und visuelle Begegnung von Laserlicht und elektronischer Musik in der Hauptkirche St. Katharinen. Kabarett gibt es in der Kreuzkirche in Barmbek mit Lutz von Rosenberg Lipinsky, Sascha Tamm, Sertac Mutlu und Marie Diot.
Die Christianskirche in Ottensen verwandelt sich am Abend in eine Krimikirche unter dem Titel „Das glaube ich nicht“ mit dem Schauspieler Peter Franke. Es geht um den Glauben an das Unglaubliche. Und musikalisch ist in Hamburgs Kirchen auch wieder viel dabei: In St. Gertrud auf der Uhlenhorst spielen unter anderem Eddi Hüneke (Ex-Wise-Guys), Katja Kaye und Amira Rosa.