Hamburg. Wilde Pflanzen und wilde Bienen statt gemähtes Gras an Bergedorfs Forschungsstätte. Wie sich das Vorzeigeprojekt entwickelt hat.
Wieso wuchert und wildert das denn hier so? Was sollen denn diese ganzen Stauden, Sträucher und Brennnesseln? Haben die Gärtner auf dem herausstechenden Forschungsareal verlängerten Sommerurlaub? Ganz und gar nicht: Das ist die pure Absicht im Astronomiepark der Hamburger Sternwarte am Gojenbergsweg, wo die Universität Hamburg gemeinsam mit Unterstützern und Partnern wie der Deutschen Wildtier Stiftung, der Stiftung Biotopschmiede und dem Nabu mit präzisen Eingriffen Lebensräume und Nahrungsquellen für bedrohte Tier- und Insektenarten bereitgestellt hat.
Ein Garten-Experiment mit etwas Anlauf, gesteht Wiebke Främcke, ihres Zeichens für die Universität Hamburg federführende Projektkoordinatorin. Främcke ist in ihrem Element, wenn sie auf dem Areal die mittlerweile sieben Testflächen vorzeigt, wo es schon mächtig blüht und bald auch heftig summt. Ein Magnet soll es werden, nicht mehr nur für Forscher, Wissenschaftler und Sternensüchtige, sondern auch neuer Lebensraum primär für Wildbienen – von denen gibt es weltweit 600 verschiedene Arten, aber mehr als die Hälfte davon sind vom Aussterben bedroht.
Ein wildes Naturparadies rund um die Sternwarte
Rückblende zu den Anfängen 2022: Die Beteiligten schauen bei einer Begehung des Parks, was überhaupt umsetzbar ist. Die Biologin Franziska Schmidt-Lewerkühne (Nabu) kreierte damals nach dem Vor-Ort-Termin Vorstellungen, wie denn das Gelände im Sinne des Projektauftrags umgestaltet werden könne. Wildblumenwiesen, verschiedenste Staudenarten wie Bärlauch, Salomonsiegel, Beinwell und Wegewarte.
Das reinste Paradies für Schmetterlinge, Hummeln und eben auch Wildbienen, um Nahrung und Unterschlupf zu finden. Dazu noch heimische Gehölze wie Schwarzer Holunder, Felsenbirne, Pfaffenhütchen oder Faulbaum. Nicht an jeder Ecke, aber schon sichtbar, gerade im Bereich zwischen Reflektor und Äquatorial.
Finanziert durch Mittel der Deutschen Wildtier Stiftung
Im April 2023 ist es dann so weit, finanziert durch Mittel der Deutschen Wildtier Stiftung. Erste Wiesen werden angelegt, Böden abgemagert, gesät und angepflanzt, auch mal ein Steinhaufen, ein Holzstapel, ein Miniteich und offene Bodenstellen gesetzt. Dominanter Bestandteil und fürs Städter-Auge eher ungewohnt ist die Langgrasinsel, die maximal einmal im Jahr und dann auch nur partiell gemäht werden soll.
Was daraus geworden ist? Ein Naturschauspiel! Das lässt sich mithilfe des Smartphones und extra angezeigten QR-Codes vor den Flächen noch besser verstehen.
Wildbienen-Population entwickelt sich
Alles, damit sich dort eine neue Population von Wildbienen ansiedeln kann. Genau, Wildbienen und nicht Honigbienen. „Honigbienen sind von Menschen gezüchtet, Wildbienen hingegen nicht. Sie produzieren auch keinen Honig“, erklärt Judy Melina Kolster von der Deutschen Wildtierstiftung. Und der Erstbezug hat begonnen, so wie es die Fachleute vorhergesagt hatten: Nach ihren ersten persönlichen Beobachtungen, so denkt Wiebke Främcke, scheinen die ersten Ankömmlinge an Wildbienen doch „recht zufrieden“ zu sein.
Und dann gibt es im westlichen Teil des Astronomieparks noch den sogenannten Urwald, ein kleines, naturbelassenes Waldstück. Das so bleiben soll wie auch die alten Baumbestände auf der Gesamtfläche. Denkbarer neuer Lebensmittelpunkt für Fledermäuse. Ein paar sogenannte Braune Langohr-Fledermäuse sollen schon entdeckt worden sein. Und Neuankömmlinge aus dem Reich der Amphibien seien ebenfalls denkbar.
Menschen müssen Naturschönheit neu lernen
Aber muss denn das alles wirklich so sein? Ja, sagen die Beteiligten des Projekts UnternehmensNatur, so der offizielle Titel. Weil es den städtischen Sehgewohnheiten bewusst widerspricht. Naturentfremdung ist das Stichwort, das Julia-Marie Battermann einwirft. Die Referentin für Natur- und Artenschutz bei der Deutschen Wildtier Stiftung weiß, dass ihre Mitmenschen das Phänomen von hübsch Blühendem wieder neu lernen müssen.
Ungehemmte Pflanzenpracht kann auch für Überraschungen sorgen. Battermann kennt eine Bushaltestelle im Hamburger Stadtbild, deren Dach ähnlich begrünt wurde: „Da gab es in der Folge eine Artenvielfalt, mit der wir nicht gerechnet hatten.“
Haus soll plangemäß im kommenden Jahr saniert werden
Das neue Naturschauspiel kann auch zusammen mit dem Denkmalschutz und der Bewerbung der Sternwarte als Unesco-Weltkulturerbe funktionieren. Weil niemandem etwas aufgezwängt werde: „Wir haben ja teilweise Maßnahmen wieder abgebrochen, wo es Einwände gab. Uns liegt auch daran, dass der Denkmalschutz beachtet wird“, berichtet Projektchefin Främcke und zeigt auf einen Bereich rund um den Äquatorial, der extra frei blieb von der ungehemmten Wucher-Wucht. Das Haus soll plangemäß im kommenden Jahr saniert werden.
Auch die Weltkulturerben-Bewerbung wird vom Naturschauspiel nicht negativ beeinflusst. Die Sternwarte sollte letztlich nicht nur den Charakter eines Museums innehaben, sondern auch „mit der Zeit gehen“, eine „moderne Funktion“ einnehmen, denkt Projektchefin Främcke. Die Sternwarte gelte nun als Ort der gelebten Biodiversität.
Daran können sich nun im Anfangsstadium schon einige Menschen mehr als erfreuen. Einige Studenten haben großen Spaß daran, Wildsträucher und Co. zu hegen und zu pflegen. Und Wiebke Främcke kann noch mehr positives Feedback geben. „Ich wurde von Nachbarn schon angesprochen, wie man solche Naturlandschaften im eigenen Garten anpflanzen kann.“
Wenn die Biene weg ist, geht‘s dem Menschen schlechter
Das Projekt an der Sternwarte besitze definitiv „Strahlkraft“ und könne für andere der 190 Liegenschaften der Uni Hamburg Vorbildcharakter haben, weiß die Beauftragte für Biodiversität der Universität, Myriam Rapior. Sie ist auch stellvertretende Vorsitzende des BUND, dazu Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung, der die Bundesregierung berät, und eben auch Natur-Liebhaberin. Rapior sagt: „Die Studenten möchten hier mitarbeiten, haben eine Biodiversitäts-AG ins Leben gerufen.“ Das sei genau der richtige Schritt, den es benötige, denn Tier- und Insektenarten sterben jetzt.
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Das könne auch dem Menschen letztlich sehr weh tun. Insekten seien sogenannte Ökosystem-Dienstleister, ergänzt Malte Siegert, Vorsitzender des Nabu Hamburg, und weist damit auf einen essenziellen Punkt hin: „Wenn sie dieser Funktion nicht nachkommen, dann haben wir Menschen es in Zukunft schwer.“ Siegert wünscht sich, dass mehr Unternehmen in der Hansestadt dem Sternwarten-Beispiel folgen und auch die Politik sich dem Thema verstärkt annimmt.