Hamburg. Den Start vor 75 Jahren machten alte Wehrmachtsbestände. Heute werden modernste Praxen und Labore mit Medizinprodukten beliefert.
Dieser Speichelsauger beim Zahnarzt, das Abstrichstäbchen beim Gynäkologen und der Urinbecher beim Hausarzt: Jeder kennt diese Produkte aus irgendeiner Praxis. Wo Blut abgenommen, mit einem Spatel gekratzt wird oder eine Schutzhülle über das Ultraschallgerät gerollt wird. Mit solchen Medizinprodukten beliefert die Firma Heinz Herenz Hamburg (HHH) weltweit viele Labore, Arztpraxen und Krankenhäuser – und zwar schon seit 75 Jahren. Das Jubiläum will der Lohbrügger Familienbetrieb, der jährlich zwischen acht und zehn Millionen Euro Umsatz macht, mit einem großen Sommerfest feiern.
Und natürlich fing alles ganz klein an: Der Anfang zum Medizinstudium war schon gemacht, aber dann musste Heinz Herenz als Sanitäter zum Militär. Nach dem Krieg entdeckte der findige Hamburger dann Verbände und Instrumente aus alten Wehrmachtsbeständen. „Damit klapperte er ab 1949 alle Ärzte und Krankenhäuser in Norddeutschland ab“, erinnert sich Antje Herenz-Cyll. Die jüngste der drei Töchter weiß auch noch, wie die erste Firma an der Gertigstraße (Winterhude) abbrannte, 1979 an den Rudorffweg in Lohbrügge gezogen wurde. Hier wurde ständig aufgestockt und angebaut, gibt es heute ein 4000 Quadratmeter großes Lager.
Firma Heinz Herenz Hamburg liefert Medizinprodukte in alle Welt
Das erste Patent kostete viel Mühe, denn am heimischen Küchenherd experimentierte Heinz Herenz mit Kleister und Zellstoffmasse, wobei anfängliche Versuche eher braungebrannt endeten. Hintergrund war eine Anfrage aus dem Hygieneinstitut, berichtet Antje Herenz-Cyll. „Die zu untersuchenden Bakterien brauchen Luft, aber man wollte das teure Laborpersonal nicht ewig mit handgedrehter Baumwolle beschäftigen, um die Reagenzgläser oder Erlenmeyerkolben steril zu verschließen.“ So kam es zu der Erfindung der luftdurchlässigen „Steristopfen“ aus Zellstoff.
Heute gibt es sie in 100 verschiedenen Formen, monatlich etwa eine Million Stück werden in Lohbrügge angefordert. „Die gehen bis nach Papua-Neuguinea, auf die Malediven, nach Japan und sogar in die Antarktis, zu den Laboren der dortigen Forschungsschiffe“, sagt Geschäftsführer Dieter Cyll. Allein für die Stopfen werden sechs Mitarbeiter bei der Produktion im Erzgebirge gezählt. Dazu kommen 35 Angestellte in Lohbrügge und 15 in Italien: „Da wird das Abstrichbesteck hergestellt, also der Wattestab im Plastikröhrchen, was etwa für eine Stuhlprobe gebraucht wird“, erklärt der 65-Jährige.
Er hat eigentlich Fahrzeugbau studiert und war Diplom-Ingenieur bei BMW in München. Dann aber verliebte er sich in Antje, Studentin der Biomedizintechnik an der Lohbrügger Hochschule. Seit 1986 schmeißt das Ehepaar nun gemeinsam den Großhandel und besucht zweimal jährlich die große Fachmesse „Arab Health“ in Dubai. Auch sonst kommen die Boberger ganz gut um die Welt, wenn auch nicht alle Geschäftspartner in 120 Ländern besucht werden müssen. Aber da gibt es zum Beispiel die indische Produktion von Piercingsnadeln und die sterilen Latex-Handschuhe aus Malaysia. „Eine Zeit lang verkauften wir Hunderttausende Besamungspipetten für Rinder in Afrika“, erzählt Cyll.
Corona machte gigantische Mengen an Wattestäbchen nötig
Die Nachfrage folge stets gewissen Wellen: In Zeiten von Ebola fragten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Afrika nach Bodybags, das sind Leichensäcke, die eine Kontamination verhindern. Auch während der Corona-Pandemie musste der Absatz komplett umgestellt werden: Plötzlich wurden Hunderttausende Abstriche pro Tag gemacht, brauchte es gigantisch viele abbrechbare Wattestäbchen und Röhrchen für die Labore. „Da haben wir zu 400 Prozent mehr verkauft, konnten sogar neue Großkunden wie VW und die Berliner Charité dazugewinnen.“
Diese Nachfrage ist zum Glück abgeebbt. Doch das Geschäft läuft gut weiter, wenn zum Jahresende die nächste Generation in den Startlöchern steht: Tochter Laura (39) und Sohn Christoph (31) übernehmen. „Jetzt nach Corona kommen auch wieder die Vorsorge-Untersuchungen dran, werden zum Beispiel viele EKG-Elektroden gebraucht. Und für all die verschobenen OPs werden nun mehr Skalpellklingen angefragt“, sagt Christoph Cyll.
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Medizinprodukteverordnung bedeutet hohen bürokratischen Aufwand
Er studierte Logistik und Handel an der Hochschule Fresenius, machte Praktika in China und Dänemark – und weiß, dass viele Labore derzeit einen Fokus auf Prozessverschmälerung und Automatisierung legen. „Auch die Nachhaltigkeit ist ein großes Thema. Eine schwedische Firma bietet schon Probengefäße aus gepressten Holzspänen an.“
Kopfschmerzen indes bereitet dem künftigen Geschäftsführer vielmehr der ganze Papierkram, also die Medical Device Regulation (MDR): Nach dieser strengen Medizinprodukteverordnung „muss alles kleinlichst genau dokumentiert werden“, sagt der Junior und weiß, dass die Zertifizierung eines einzigen Produktes schon 300.000 bis 500.000 Euro kosten kann. In Sachen Qualitätsmanagement nach EU-Vorgaben möchte er künftig mit den Lohbrügger Werkstudenten der Medizintechnik kooperieren.
Und auch die kennen manchen Abnehmer von Alkoholtupfern, Urinbeuteln, Pipetten und Projektträgern ganz in der Nähe, ahnt Familie Herenz-Cyll: „Das geht vom Bergedorfer Galab-Prüflabor über das große UKE bis hin zu einem Hamburger Schiffsausrüster, der unsere sauberen und sterilen Pipibecher durchaus auch für Lebensmittel an Bord nutzt.“