Hamburg. Von 22 Plätzen sind aktuell nur zwölf belegt. Dabei ist der Bedarf groß. Was das für Kinder und auch ihre Eltern bedeutet.
„Hallo Du“, rufen die beiden Jungs, die eng nebeneinander auf dem Sofa sitzen und 1000 Puzzleteile schubsen, die mal niedliche Hunde zeigen sollen. Wobei „niedlich“ ein seltsames Wort ist, wenn man weiß, dass die beiden erst seit einigen Wochen Freunde sind, zuvor jedoch schlimme Zeiten erlebt haben. Sonst hätte sie das Jugendamt nicht aus ihren Familien genommen und in das neue Bergedorfer Kinderschutzhaus gebracht.
Verwahrlost, sexuell misshandelt, unterernährt, emotional missachtet: Sowas steht dann in den Erziehungsgutachten über Eltern, die gewalttätig sind, drogenabhängig oder psychisch krank. „Spätestens seit Corona haben mehr Eltern Depressionen, Borderline oder Schizophrenie“, sagt Arnhild Sobot, die beim Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB) die Abteilung der Jugendhilfe Süd leitet.
Kinderschutzhaus nicht voll belegt: Es fehlt an Personal
Sie war dabei, als im September 2023 das Richtfest für das 1400 Quadratmeter große Kinderschutzhaus am Ladenbeker Furtweg 136 gefeiert wurde, nachdem die Sprinkenhof AG den Bau zweimal ausschreiben musste, wegen „explodierender Baukosten“: Von zunächst angedachten 3,71 stieg die Investition letztlich auf 6,7 Millionen Euro – immerhin mit Fußbodenheizung.
„Es war ein holpriger Start bei der Eröffnung am 1. März“, sagt Sobot und meint, dass noch Bauarbeiter im Haus waren. Noch holpriger aber, nahezu skandalös ist, dass das teure Haus jetzt nicht voll belegt werden kann: Es fehlt an Personal.
Von 22 Plätzen insgesamt sind aktuell bloß zwölf belegt – obwohl der Bedarf riesig ist. Für die Kleinsten, die Ein- bis Sechsjährigen, sollten es eigentlich zwei Gruppen sein mit jeweils acht Vollzeitkräften, die rund um die Uhr da sind. „Leider finden wir nicht genügend Sozialpädagogen und Heilerzieher. Deshalb konnten wir bislang bloß eine Gruppe mit sieben Kindern öffnen“, erklärt die Abteilungsleiterin: „Dabei wäre eine zweite Gruppe schon mindestens einmal voll.“
Bei den Älteren (sechs bis zwölf Jahre) sieht es etwas besser aus: Sie brauchen bloß sechs Vollzeitbetreuer. Und im Moment gibt es bloß fünf Kinder, sind also sogar noch drei Plätze frei.
An den Löhnen könne der Personalmangel nicht liegen, die Bezahlung samt Nachtschicht-Zulagen und Weiterbildungen sei gut, heißt es. Aber noch immer sind fünf Personalstellen frei, werden vor allem Männer gesucht. Was aber tun bei zugleich so vielen Kindern, die in Obhut genommen werden müssen? „In anderen Einrichtungen gehen dann die Älteren ein bisschen früher in die großen Gruppen, so werden Plätze frei für die Kleinen. Aber eben leider nicht hier in Bergedorf, wo wir auch keine Babys aufnehmen, wie ursprünglich geplant“, erklärt Arnhild Sobot. Sie weiß von aktuell 127 städtischen Plätzen in insgesamt sieben Kinderschutzhäusern, doch: „Für Ein- bis Sechsjährige sind alle Plätze komplett ausgebucht.“
Kein Kind darf abgelehnt werden
Abgelehnt aber wird in Hamburg niemand: Es besteht eine gesetzliche Aufnahmeverpflichtung, um Leib und Leben der Kleinen zu schützen und ihre psychische Unversehrtheit. Nun müssen Bergedorfer Kinder eben weiterhin in anderen Bezirken betreut werden, wo sie nicht die alten Nachbarn und Kita-Freunde kennen. Und ihre Bergedorfer Eltern, die zweimal wöchentlich für zwei Stunden zu Besuch kommen dürfen, haben einen weiteren Weg.
Als reine Krisenintervention ist das Bergedorfer Haus angedacht, nach drei Monaten spätestens sollte geklärt sein, wie es weitergeht, bei Pflegeeltern, in Heimen oder einem SOS-Kinderdorf, oder mit einem Erziehungsbeistand. „Die Verweildauer ist aber weitaus länger“, meint Sobot. Sie kennt zudem auch Kinder, die immer wieder zurück in ihre Familie kamen, inzwischen schon dreimal vom Jugendamt wieder fortgenommen wurden. Und sie kennt Geschwister aus einer Flüchtlingsunterkunft, deren Mutter einfach nicht wieder aufgetaucht ist. Da braucht es schnell eine Lösung.
„Die liegen nachts selig Arm in Arm und sind froh, dass sie wenigstens einander haben“, weiß André Ludewig-Luckner. Der Sozialpädagoge leitet das Bergedorfer Kinderschutzhaus und ist mit seinem Team bemüht, den Kindern viel Zuwendung zu schenken, damit sie sich sicher und geborgen fühlen. So unterschiedlich sie auch sein mögen, denn „manche werfen und treten und müssen ein Trauma bewältigen. Andere sind autistisch, brauchen Ruhe und ritualisierte Abläufe“, erklärt der 32-Jährige.
„Zauberlichter“ helfen beim Einschlafen
Längst nicht alle seien das Zähneputzen gewohnt oder ein gemeinsames Mittagessen: „Manche können auch nicht mit Besteck essen, sie wurden nur gefüttert“, beobachtet Ludewig-Luckner, der zuvor 13 Jahre in einer Göttinger Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat.
Regenbogen, Stern und Wolke: Ein Mädchen nahm gleich alle Nachtlampen („Zauberlichter“) auf einmal mit ins Bettchen. Andere mögen sich gar nicht ausdrücken, zeigen höchstens mal auf einen Smiley oder malen eine Blume („Fühlst du dich heute wie ein Kaktus oder wie eine Tulpe?“). Puppenküche und Verkleidungskiste sind ebenso beliebt wie Höhlenbauen, Basteln und die Motorikwände (zum Schrauben und Kneten). Der „Karrenraum“ ist schon mit Rollern und Rädchen gut gefüllt, bald darf auch der große Spielplatz hinterm Haus eingeweiht werden.
Eigentlich also alles gut, wenn es genügend Personal im Haus gäbe. Da bliebe indes noch ein Personalproblem außerhalb: Die Kinder müssen zu Logo- und Ergotherapeuten, auch mal zum Zahnarzt. Aber: „Wir haben im ganzen Bezirk Bergedorf noch keinen einzigen Kinderarzt mit Kapazitäten gefunden. Deshalb fahren wir sie derzeit nach Wilhelmsburg, Altona oder Nord. Auch das bindet personelle Kräfte“, ärgert sich die LEB-Leitung.
Nun hat auch Bergedorfs Jugendhilfeausschuss das Thema Kinderschutzhaus auf seine Tagesordnung genommen und will am Dienstag, 30. April, über die Situation sprechen. Die öffentliche Sitzung beginnt um 17.30 Uhr im Körberhaus an der Holzhude 1. Den Lokalpolitikern ist längst bekannt, dass die Zahlen der angezeigten Kindeswohlgefährdungen rasant steigen – und zwar speziell im Bezirk Bergedorf. Laut Senat gab es im Jahr 2022 in ganz Hamburg 4425 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls, allein 1253 betrafen eine akute Gefährdung. Und hier lag Bergedorf (nach dem Bezirk Mitte mit 337 Verfahren) schon auf dem zweiten Platz: 217 akute Kindeswohlgefährdungen wurden in Bergedorf geprüft, gefolgt von 205 in Wandsbek und 170 in Hamburg-Nord.
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Im Vergleich zu den Vorjahren ist dies eine erschreckende Entwicklung: 2021 waren es im Bezirk Bergedorf 98 Akutfälle weniger, 2020 sogar 114 Fälle weniger. Die Rede ist von Gewalt auch an sehr kleinen Kindern: Bergedorfs Akut-Verfahren betrafen zuletzt 46 Kinder unter drei Jahren, 23 zwischen drei und sechs Jahren sowie 50 Sechs- bis Zehnjährige. Wobei auch erwähnt werden darf, dass in 136 Fällen „keine Kindeswohlgefährdung, aber Hilfebedarf“ vorlag, so die Statistik. Auch dieser Wert ist gestiegen: 2021 waren es 108 Hilfefälle, 2020 lag die Zahl der Fälle bei 45.