Reinbek. Erst zieht der Angeklagte sein Tier an der Leine, dann liegt eine Seniorin mit Gehirnerschütterung am Boden. Wie konnte das passieren?
Zuerst hat er seinen Hund an der Leine gezogen, dann einer Seniorin das Handy aus der Hand gerissen, sie zu Boden geschubst, getreten und ist schließlich einfach davon gefahren, damals, am Silvesternachmittag 2022. „Tut mir leid“, sagt Thomas H. (Name geändert) über diesen Streit zwischen Hundebesitzern, der eskaliert ist. Amtsgericht Reinbek, Saal 104. Jetzt sitzt H. auf der Anklagebank und muss sich vor der Richterin für seinen Ausraster verantworten. Staatsanwältin Anne-Kathrin Dose wirft ihm Tierquälerei und Körperverletzung vor. Sie sagt: „Die Zeugin erlitt eine Gehirnerschütterung und Kopf- und Rumpfschmerzen, das nahm der Angeklagte willentlich in Kauf.“
Nach Doses Überzeugung ist Folgendes passiert: Die 68 Jahre alte Rentnerin Susanne G. (Name geändert) möchte am späten Nachmittag des Silvestertages mit ihren beiden Hunden noch eine Runde durch das moorige Gebiet an der Lohe, Nähe Wentorf, spazieren gehen, bevor das laute Geböller anfängt und sich die Vierbeiner nicht mehr hinaustrauen. Er regnet, weshalb sich der ältere der beiden Hunde weigert mitzukommen und im Auto warten muss. Auf ihrem Spaziergang begegnet G. dem Angeklagten, der mit seinem Hund aus dem gleichen Grund spazieren ist.
Amtsgericht Reinbek: Streit unter Hundebesitzern eskaliert – Prozess
„Er zog die ganze Zeit an der Leine und riss den Hund in die Luft. Ich dachte mir, der hat bestimmt einen schlechten Tag, aber was kann das kleine Tier dafür?“, sagt G., nun als Zeugin im Gerichtssaal. Sie schildert, wie sie auf den Angeklagten zu geht, ihn anspricht und bittet, fürsorglicher mit seinem Hund umzugehen. „Halts Maul!“, soll Thomas H. (31), ein verheirateter Familienvater, sie nur angefahren haben. Die einzigen Worte, die der Angeklagte bis zu dem Tag im Gericht an die Zeugin gerichtet sagt. Doch das ist erst der Anfang der „Verkettung unglücklicher Umstände“, wie die Verteidigerin Carolin Warner das Geschehen beschreibt.
Der Angeklagte, ein großer, dünner Mann mit braunen Haaren, die er sich für die Verhandlung ordentlich hinter die Ohren gekämmt hat, wirkt nervös, als die Zeugin den weiteren Tatverlauf aus ihrer Sicht beschreibt: Thomas H. und Susanne G. treffen auf dem Parkplatz an der Lohe erneut aufeinander. „Der Hund saß in einer Transportbox im Auto und hatte einen Regenmantel an. Das passte so gar nicht zu seinem vorherigen Verhalten“, so die Zeugin. Thomas H. will gerade mit seinem Auto zurücksetzen und zurück nach Hause fahren, als er sieht, wie die Zeugin ein Foto von den Kennzeichen seines Autos macht. „Ich wollte damit gar nicht zur Polizei. Ich wusste auch nicht, dass das gefährlich werden könnte. Jetzt ist mir das natürlich klar“, sagt G..
Der Streit eskaliert: Die Senioren bleibt mit einer Gehirnerschütterung allein zurück
Die Hundebesitzerin erzählt, wie schnell die Situation plötzlich eskaliert sei: Der Mann steigt aus seinem Auto und reißt der Frau das Handy aus der Hand. Es fliegt in das moorige Gewässer – später kann es auch die Polizei nach langem Suchen nicht finden. Dann schubst er sie mit beiden Händen, und die Rentnerin knallt mit dem Kopf auf dem Boden. Er tritt zwei- bis dreimal auf die am Boden liegende Frau. „Zum Glück wurde der Sturz von meinem Stirnband, meiner Mütze und der Kapuze meiner Jacke abgefedert“, sagt die Zeugin, die mit einer Gehirnerschütterung und leichten Schmerzen davon kam.
Der Angelakte Thomas H. fährt mit seinem Auto einfach weg und lässt die Frau am Boden liegen. „Das war das Einzige, was ich Ihnen übel genommen habe“, sagt G. direkt an den Angeklagten gewandt. Als H. sich davonmacht, prägt sich die Zeugin das Kennzeichen genau ein – das Foto hat sie ja nicht mehr. Anschließend ruft sie die Polizei. „Ach nein, mir fällt auf, dass das gar nicht sein kann. Ich hatte mein Handy ja nicht mehr“, merkt die Zeugin selbst an. Jetzt ist Susanne G. sich sicher, dass sie mit dem Auto zur Polizeiwache gefahren ist. An die Fahrt erinnert sie sich aber nicht.
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Gut 13 Monate später wird im Gerichtssaal schnell klar, dass es voraussichtlich zu keiner Verurteilung des Angeklagten kommen wird. Die Zeugin verstrickt sich in Widersprüche, was vermutlich auf die Kopfverletzung zurückzuführen ist, und findet ihre Verletzung selbst nicht so schlimm. Und der Hund des Angeklagten sei vielleicht auch nur von den Böllern verängstigt gewesen, die zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch gar nicht abgefeuert wurden.
Damit sind sich alle Parteien einig: Das Verfahren wird eingestellt. Ein Hamburger Tierheim kann sich freuen – es wird innerhalb der nächsten drei Monate eine Überweisung von 1000 Euro von H. erhalten. Auch die Zeugin scheint zufrieden. Sie erhält 160 Euro für ihr nicht auffindbares Handy, die sie direkt an Ort und Stelle von dem Angeklagten ausgezahlt bekommt. Kurz vor Beendigung der Verhandlung meldet sich Thomas H. das erste Mal offiziell zu Wort. „Tut mir leid“, sagt er, ohne Susanne G. dabei in die Augen zu schauen.