Bergedorf. Ärgerlich für Anbieter des Obdachlosenmagazins: Bettler mit gefälschten Verkäuferausweise. Doch das eigentliche Problem liegt tiefer.
Seit einigen Wochen fällt auf, wie viele Menschen auch in Bergedorf in Armut leben und auf den Straßen betteln, längst nicht nur in den Fußgängerzonen. Und natürlich herrscht auch im Kampf um die Gunst von Spendern eine harte Konkurrenz – aktuell sehr zum Leidwesen der Verkäufer von Hinz&Kunzt, dem Hamburger Straßenmagazin für Obdachlose.
„In der Bergedorfer City sind gerade bestimmt fünf Fake-Verkäufer ohne richtigen Verkäuferausweis unterwegs, darunter auch ein Paar mit Kind“, erzählt Mohammed, der seine Hinz&Kunzt-Ausgaben auf dem Wochenmarkt an der Chrysanderstraße verkauft. Der 60-Jährige, der 1979 aus Pakistan kam und seit 22 Jahren das Obdachlosen-Magazin vertreibt, ärgert sich: „Wo kriegen die die her? Die muss ihnen ja wohl ein Kollege abgeben.“ Aber der Weg sei nicht unbedingt nachvollziehbar, denn „die kratzen den QR-Code auf der Titelseite einfach weg“, meint der Mann, der zu den „versteckt Obdachlosen“ zählt und bei einem guten Freund in Bergedorf übernachtet. Der QR-Code gibt Aufschluss über die Herkunft eines Heftes.
Hinz&Kunzt: Von Fremden vor dem Aldi-Markt bepöbelt worden
Vor dem Lidl-Markt in Wentorf habe sie eine junge Ausländerin sehr nett gegrüßt, „aber kurz später fing sie an, penetrant zu betteln. Dabei dürfen die das doch gar nicht, wenn sie offizielle Hinz-& Kunzt-Verkäufer sind“, wundert sich eine Bergedorferin, die das Straßenmagazin kaufen wollte. Nach einer ähnlichen Begegnung ist die 53-Jährige etwas eingeschüchtert und mag ihren Namen nicht in der Zeitung lesen: „Als ich vor dem Aldi-Markt an der Weberrade in Lohbrügge einen Fake-Verkäufer angesprochen habe und seinen gefälschten Ausweis fotografieren wollte, haben mich andere Leute laut bepöbelt und als ,Ziege’ bezeichnet. Ich solle den armen Mann doch in Ruhe lassen.“ Dabei habe ihr eine Aldi-Verkäuferin bestätigt, dass man den Mann häufiger des Platzes verweise, bloß aus Zeitgründen nicht immer dazu komme.
„Und ich habe genau beobachtet, dass er mit einer Frau zusammenarbeitet, die gegenüber beim Netto-Markt ebenfalls mit einem Fake-Ausweis das Magazin verkaufen will“, sagt die empörte Bergedorferin – und beschreibt die gefälschten Ausweise: ein Foto, eine vierstellige Nummer und der Titel Hinz&Kunzt sei zu sehen.
Auf dem Foto muss jetzt aber auch ein Original-Stempel sein: „Wir haben seit einiger Zeit etwas fälschungssichere Ausweise, die aussehen wie eine Bankkarte und befristet sind“, erklärt Sybille Arendt. Die Pressesprecherin von Hinz&Kunzt wird derzeit oft auf die Problematik der Fake-Verkäufer hingewiesen, in der gesamten Stadt. Neben dem QR-Code gebe es zur Kontrolle eine weitere Markierung, die auf einen ungewöhnlichen Vertriebsweg hinweise. Die wolle man natürlich nicht verraten.
Sechs freie Verkaufsplätze im Bezirk Bergedorf
„Im Bezirk Bergedorf haben wir aktuell elf aktive Verkäufer, sechs Plätze sind nicht besetzt“, sagt Sybille Arendt und führt sie auf: Bei Aldi am Grachtenplatz in Neuallermöhe, bei Edeka am Wiesnerring, vor dem ehemaligen Karstadthaus im Sachsentor, vor dem Bergedorfer S-Bahn-Eingang, bei Edeka am Durchdeich und eben auch bei Aldi an der Weberrade in Lohbrügge. Die Gründe für die verwaisten Plätze sind vielfältig: Entweder sind die Menschen krank, ergatterten eines der 800 Betten im städtischen Winternotprogramm oder sie sind gestorben (2021 starben mindestens 29 Menschen auf Hamburgs Straßen).
Bundespräsident schrieb seine Doktorarbeit über Obdachlosigkeit
Man müsse „immer wieder auf die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten aufmerksam machen“, sagt dann auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Interview, das Hinz&Kunzt in seiner Dezember-Ausgabe druckt: „In unserem wohlhabenden Land dürfen wir es nicht hinnehmen, dass Menschen im Abseits unserer Gesellschaft in Not und Elend leben.“
Steinmeier promovierte übrigens schon 1992 zum Thema „Bürger ohne Obdach: zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum“. 30 Jahre später, im Anblick von Energiekrise, Ukraine-Krieg und Pandemie, sagt er zu seinem Gesprächspartner Benjamin Buchholz: „Die Angst vor Wohnungsverlust ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Oft trifft sie Menschen, die keine Ersparnisse haben.“
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Zum Glück aber ist Betteln in Deutschland nicht verboten. Und man muss bedenken, dass diese Menschen in Not handeln, ums Überleben kämpfen. Und so postuliert Jörn Sturm, der Geschäftsführer von Hinz&Kunzt auch: „Nicht das Betteln an sich sollte uns stören, sondern die Notlage, in der sich die Menschen befinden.“
Zugleich appelliert er an jene Leute, die in bester Absicht Geld geben, ohne das Magazin zu kaufen: Damit machen sie die Verkaufenden zu Menschen, die Almosen empfangen. Deshalb bittet Hinz&Kunzt: „Kaufen Sie immer das Magazin und runden Sie gegebenenfalls großzügig auf.“ Mit dem Preis (2,20 Euro, davon 1,20 Euro für den Verkäufer) können auch Hilfeangebote ermöglicht werden wie zum Beispiel ein kostenloser Deutschkursus für Zugewanderte.
263.000 Menschen haben in Deutschland keine Wohnung
Erstmals hat die Bundesregierung einen Wohnungslosenbericht für ganz Deutschland vorgelegt. Rund 263.000 Menschen haben hierzulande keine eigene Wohnung. Mietschulden sind der häufigste Grund (zu 47 Prozent) für einen Verlust der Wohnung. Die größte Gruppe (178.000) ist in Notunterkünften untergekommen. Dazu sind rund 49.000 Menschen verdeckt wohnungslos, sie schlafen zum Beispiel bei Freunden auf dem Sofa. Mindestens 37.000 Menschen leben auf der Straße oder in Behelfsunterkünften, sind also obdachlos.
Männer stellen mit 63 Prozent die Mehrheit der Wohnungslosen. Das Durchschnittsalter von Menschen, die auf der Straße leben, liegt bei 44 Jahren. Unter chronischen Krankheiten leidet mehr als die Hälfte, 25 Prozent haben eine Suchterkrankung.
Die Regierung, kündigte Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) an, werde einen nationalen Aktionsplan erarbeiten und verabschieden. Als Grundlage dient der Wohnungslosenbericht, der künftig alle zwei Jahre erscheinen soll.
Deutschland und die weiteren 26 EU-Staaten haben das Ziel ausgerufen, Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 abzuschaffen. So legte es die EU in der Erklärung von Lissabon fest.