Hamburg. Bildungsforscher nimmt die Draußenschule in Nettelnburg drei Jahre lang unter die Lupe. Er hat schon jetzt erste Antworten.
Feuchtes Laub bedeckt den Boden im Wäldchen hinter der Grundschule Nettelnburg. Die Kinder der Klasse 3b stehen im Kreis und lassen fasziniert einen winzigen Knochen herumgehen, den Schädel eines Eichhörnchens. Das kletterfreudige Nagetier ist heute Unterrichtsthema. Aber nicht im warmen Klassenraum, sondern an der frischen Herbstluft – umgeben von den gleichen Bäumen, in denen ganz lebendige Eichhörnchen herumhuschen könnten. Bei der 3b steht heute Draußenschule auf dem Programm.
Seit 2020 gibt es das Konzept an der Grundschule Nettelnburg. Draußenschule, das bedeutet: Raus aus dem Schulgebäude, rein in die Natur. Einmal pro Woche wird im Wald, im Park oder im Schrebergarten unterrichtet. Fachübergreifend und anschaulich. So zeigt Umweltpädagogin Tanje Ebbelcke der 3b an diesem Tag nicht nur die knöchernen Überreste von Eichhörnchen, sondern lässt die Kinder auch mit einem nach oben gerichteten Spiegel vor der Nase zwischen den Bäumen herumlaufen, um die Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Und in der nächsten Stunde sollen Eichhörnchennester gebastelt werden.
Bildungsforscher Ulrich Vieluf untersucht den Erfolg der Draußenschule
Das macht – keine Überraschung – den Kindern sichtlich Spaß. Aber ist es auch pädagogisch sinnvoll? Werden überhaupt Inhalte vermittelt? Oder bleibt es beim Toben und Staunen zwischen Büschen und Bäumen? Diese Frage will der Bildungsforscher Ulrich Vieluf – einst Staatsrat in der schwarz-grünen Hamburger Bildungsbehörde – beantworten. Dafür wird er das Projekt Draußenschule insgesamt drei Jahre lang begleiten und evaluieren. Skepsis sei schließlich immer noch weit verbreitet, betont der Experte: „Nicht nur bei den Eltern, sondern auch bei den Lehrkräften.“ Letztere sorgen sich häufig, dass sie durch die Draußenschule im Lehrplan hinterherhinken.
Seit einem Jahr untersucht Vieluf die Draußenschule in Nettelnburg schon. Die ersten Ergebnisse sind positiv. „Wir haben mit Fragebögen getestet, was Viertklässler über naturwissenschaftliche Zusammenhänge wissen.“ Die untersuchten Schüler hatten vor der Coronazeit ein Jahr Unterricht in der Draußenschule gehabt. Die Ergebnisse konnte der Forscher dann mit Kontrollgruppen vergleichen. Die „Draußenschüler“ zeigen dabei ein „überdurchschnittliches naturwissenschaftliches Verständnis“, so Vieluf und fügt hinzu: „Sie trauen sich Forschen und Experimentieren eher zu.“ Dieses sogenannte Selbstkonzept liegt ebenfalls über dem Vergleichswert.
Beim Unterricht in der Natur verbessert sich auch der Spracherwerb
Der Bildungsforscher begleitete in diesem Schuljahr die Drittklässler in Nettelnburg, um genauere Einblicke in den Unterricht an der frischen Luft zu gewinnen. Die ungewöhnliche Form des Unterrichts sei nicht nur geeignet, Wissen aus dem Sachunterricht zu vermitteln. „Die Kinder lernen außerdem den Umgang mit Zahlen, wenn sie die Temperatur messen oder per Stockpeilung die Höhe eines Baumes bestimmen“, betont Vieluf. Der Weg in die Natur sei Verkehrserziehung und auch der Spracherwerb verbessere sich, wenn die Schüler zum Beispiel Schauer, Nieselregen oder Wolkenbruch am eigenen Leib erleben und dabei die passenden Worte lernen.
Der Unterricht unter freiem Himmel erfülle dabei zahlreiche Anforderungen der modernen Pädagogik und Neurowissenschaft an erfolgreiche Lernkonzepte. So wechseln sich Phasen von geistiger Anspannung mit Ruhephasen ab. Kinder lernen gemeinsam und nicht in Konkurrenz zueinander. „Die Schüler machen konkrete Erfahrungen in sozialen Situationen und erhalten einen Blick auf das Ganze“, so Vieluf.
Das Prinzip wird an verschiedenen Schulen unterschiedlich umgesetzt. Doch wann ist das ungewöhnliche Unterrichtskonzept erfolgreich? „Wichtig ist ein geeigneter Lernort. Eine reichhaltige Tier- und Pflanzenwelt ist notwendig“, betont der Bildungsforscher. Die Wege in die Natur sollten außerdem nicht zu lang sein. Vieluf: „Ansonsten bleibt nicht viel Zeit übrig.“ Der Experte plädiert außerdem für mehr Mut zu längeren Einheiten: „Es wäre schön, wenn eine Schule es wagen würde, den Unterricht auf den ganzen Vormittag auszudehnen.“
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An der Grundschule Nettelnburg haben die Schüler in der dritten Klasse zurzeit vier Stunden Sachunterricht in der Woche, zwei davon werden für die Draußenschule genutzt. Die Kinder werden von ihrer Klassenlehrerin und einer Umweltpädagogin betreut. „Beide stimmen sich bei den Inhalten eng mit den anderen Kollegen ab“, sagt Schulleiterin Bettina Köhler. Sie betont ebenfalls, dass die immer ambitionierteren Lehrpläne Widerstände gegen alternative Unterrichtsformen schüren.
Seit 2019 unterstützt der Draußenschulfonds das Projekt in Hamburg und den schleswig-holsteinischen Kreisen Stormarn und Herzogtum Lauenburg. Das Geld kommt von mehreren Stiftungen, darunter ist auch die Buhck-Stiftung aus Bergedorf. Zurzeit findet die Draußenschule an 28 Schulen in der Region statt. Die Keimzelle des Projekts liegt an der Grundschule Alte Aster in Bargfeld-Stegen. Initiatoren waren 2008 Kiene Bertram, die damals Klassenlehrerin war, und der Umweltpädagoge Johannes Plotzki. Das Unternehmen „Landschaftsabenteuer“ des Umweltpädagogen begleitet auch heute den Unterricht in Nettelnburg.