Hamburg. Ab 1. Januar gibt es in HVV-Bussen keine Fahrkarten gegen Bargeld mehr. Für wen das System schwierig ist und wie es Hilfe gibt.

Eigentlich war Busfahren für Svende Merian Routine. Einsteigen, dem Fahrer das Ziel nennen, Bargeld rüberreichen, Karte entgegennehmen. Doch damit ist ab 1. Januar Schluss. Dann schafft der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) den Ticketkauf per Barzahlung ab. Wer nicht per App zahlen kann, soll eine Prepaid-Karte nutzen. Für die 68-Jährige ist das ein Problem. Denn Svende Merian ist sehbehindert.

Die Bergedorferin lebt mit Akuter Makuladegeneration (AMD). Die Krankheit zerstört nach und nach die Stelle des schärfsten Sehens im menschlichen Blickfeld. Betroffene erblinden nicht vollständig. Gesichter erkennen und vor allem Texte lesen, wird jedoch immer schwieriger. „Ich habe auf einem Auge noch ein Sehvermögen von zehn Prozent, auf dem anderen 30 Prozent“, sagt Merian. Das neue Bezahlsystem in den Hamburger Bussen sei für sie so extrem schwierig zu bewältigen. Wer kein Handy-Ticket hat, soll in der Zukunft eine Prepaid-Karte mit einem vorher einzahlten Guthaben an einen Verkaufsautomaten halten. Auf dem Display kann das gewünschte Ticket ausgewählt werden, der Fahrschein landet dann digital auf der Prepaid-Karte.

Sehbehinderte Bergedorferin kann das Display im HVV-Bus nicht lesen

„Ich besitze kein Smartphone, damit könnte ich ansonsten nicht viel anfangen“, betont die 68-Jährige. Die Prepaid-Karte hat sie bereits bei zwei Busfahrten mit der Linie 322 in Bergedorf getestet. „Der Bildschirm, an dem ich meine Fahrkarte auswählen soll, hat nicht einmal A5-Format“, sagt Merian. Sobald sie ihre Karte vor den Apparat hält, erscheinen acht Fahrkarten-Optionen zur Auswahl. Entziffern kann die Bergedorferin die Auswahlmöglichkeiten nicht. „Die Felder sind zu klein und der Kontrast der Schrift ist zu schlecht“, beklagt sie.

Bei Merians Testfahrten half ihr am Ende jeweils der Busfahrer. Sehr hilfreich seien die Fahrer gewesen, lobt die 68-Jährige. Doch die Bergedorferin empfand die Situation als unangenehm, hatte das Gefühl zu stören. Schließlich hat der HVV den Kauf mit Bargeld bewusst eingestellt, um den Ticketkauf zu beschleunigen und den Busfahrern Arbeit zu ersparen. Ein weiteres Problem sei der Guthabenbetrag auf der Karte. „Die Summe wird so kurz auf dem Display angezeigt, dass ich sie ebenfalls nicht lesen kann“, so Merian.

Ich möchte nicht aus Versehen die falsche Karte kaufen und dann kontrolliert werden.
Svende Merian

Die Bergedorferin fährt regelmäßig mit dem Bus zum Friedhof, um das Grab ihres Bruders zu pflegen. Außerdem muss sie immer wieder Fachärzte in anderen Hamburger Stadtteilen aufsuchen. „Ich kann nicht jedes Mal eine Freundin fragen, ob sie mich begleitet“, sagt die 68-Jährige und fügt hinzu: „Ich möchte nicht aus Versehen die falsche Karte kaufen und dann kontrolliert werden.“

Wäre die Bergedorferin vollständig blind, müsste sie genau wie gehörlose Menschen oder Personen mit einer starken Gehbehinderung im HVV überhaupt kein Ticket lösen. Mit ihrer eingeschränkten Sicht und insgesamt 70 Prozent Behinderungsgrad sitzt Merian in dieser Angelegenheit jedoch zwischen den Stühlen. Sie fordert, dass die Option zur Barzahlung erhalten bleibt. Alternativ müsse das Display neben dem Busfahrer die Optionen anders darstellen können. „Oder die Busfahrer müssen sich für sehbehinderte Menschen ebenso viel Zeit nehmen, wie für Rollstuhlfahrer“, macht Merian klar.

HVV betont: Busfahrer sollen Passagieren mit Problemen weiter helfen

HVV-Sprecherin Silke Seibel bedauert die Situation: „Wir haben im Vorfeld der Einführung der Prepaidkarte fünf Termine mit Vertretern von Verbänden von Menschen mit Behinderung abgehalten.“ Dabei habe eine Person ebenfalls über Schwierigkeiten berichtet, das Display zu entziffern. Technisch sei es jedoch nicht möglich, die Form der Darstellung zu ändern.

Seibels Appell an Betroffene ist daher: „Haben Sie keine Hemmungen, um Hilfe zu bitten.“ Die Busfahrer würden weiterhin auch auf diese Form des Kundenkontakts hin geschult und seien ausdrücklich angewiesen, Fahrgästen beim Kauf der Karten zu helfen. Der HVV biete außerdem regelmäßig Schulungen für Senioren oder andere Menschen an, die sich im Umgang mit der neuen Technik Nachhilfe wünschen.

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Dagmar Strehlow vom Bergedorfer Seniorenbeirat kritisiert das System für Prepaid-Karten ebenfalls. Der HVV habe die Interessensverbände für ältere Menschen zwar frühzeitig informiert. „Trotzdem muss in diesem Fall noch einmal nachgeschärft werden“, so Strehlow. Sie habe ebenfalls von Menschen mit Sehbehinderungen, aber auch mit anderen Einschränkungen gehört, die das Ticketdisplay nicht bedienen können. Ihre Forderung: „Im Notfall muss immer auch ein Barkauf möglich sein.“ Dies gelte auch für Menschen, die keine Prepaidkarte besitzen, aber nachts auf einen Bus angewiesen sind.

Die Bergedorfer Linke hatte bereits im Mai Kritik am neuen Bezahlmodell geübt. Die Politiker argumentierten damals, dass Menschen mit wenig Geld auf dem Konto Hemmungen haben könnten, eine bestimmte Summe auf eine Prepaid-Karte zu laden und damit nicht mehr zur Verfügung zu haben. Auch CDU-Politiker Carsten Engelbrecht plädierte im Frühjahr dafür, die Barzahlung weiter zu erlauben und zu sehen, welches System von den Kunden besser angenommen werde.

In Zukunft sollen HVV-Nutzer ohne Smartphone ihre Karten selbst an einem Display am Buseingang kaufen.
In Zukunft sollen HVV-Nutzer ohne Smartphone ihre Karten selbst an einem Display am Buseingang kaufen. © Funke Foto Services | Thorsten Ahlf

Die Abschaffung der Barzahlung gilt ab 1. Januar 2024 in den Bussen, die im Hamburger Ringbereich AB fahren. Die Änderung soll den Ablauf des Betriebs beschleunigen. Kunden müssen nicht mehr nach Kleingeld wühlen, die Busfahrer verlieren keine Zeit mit dem Verkauf von Karten. Die Stopps an den Haltestellen können so verkürzt werden.

Momentan würden täglich in den Bussen der Hochbahn nur noch zehn Tickets pro Fahrzeug gegen Bargeld verkauft werden. 80 Prozent der Fahrten in der Hansestadt entfallen auf Zeitkarten oder Abos. Beim Verkauf von Einzeltickets steigt der Anzahl digitaler Käufe stetig, momentan liegt er bei 37 Prozent.